Vom INTERNAT ZUM INTERNET

DIE NEUEN UTOPIEN (5): Das Internet macht deutlich, dass die Vormacht des Wissens vorbei ist. Eine Chance, mit dem Denken zu beginnen
von REINHARD KAHL

Denken durften wir in der Schule kaum. Auch wenn Lehrer uns anfuhren: „Träum nicht, denk doch mal nach!“ Was meinen Lehrer, wenn sie so insistieren und penetrieren? Jedenfalls wünschen sie wohl nicht, dass ihre Schüler denken, vorausgesetzt, man hält sich an Platons alte Definition: „Denken ist das Gespräch zwischen mir und mir selbst.“ Ein Satz, der immer noch wie eine Bombe wirkt. Und mit welcher Leichtigkeit weist er auf die Voraussetzung allen Denkens hin, dass jemand mit sich nicht identisch ist und seinen Zwischenraum nicht zukleistert, sondern ihn zum Spielraum macht.

Wie hätte man sich auch sonst was zu sagen? Das innere Gespräch und der Dialog mit anderen haben die gleiche Kerngestalt: das Spiel mit der Differenz. Wo aber die Differenz vornehmlich der Abstand zwischen richtig und falsch ist, wo dauernd bewertet wird, ob einer richtig funktioniert, wo die Köpfe geklont werden und das so genannte Wissen in die ausgedörrten Hohlköper hineinkopiert wird, da sind wir in einem Maschinenpark, auch wenn sich die pädagogischen Ingenieure als die Anwälte irgendeines höheren Wissens und mancher Werte verstehen, die sie fortwährend „vermitteln“. Aber was leben sie eigentlich?

Von meinen Erinnerungen an ein einigermaßen privilegiertes Gymnasiastenleben ein Sprung in die Gegenwart, auf den Schulhof einer Hauptschule in Berlin- Kreuzberg. Da meißeln Schüler zusammen mit einem Bildhauer. Ein türkischer Schüler sagt: „Hier kann man machen, was man denkt. Im Unterricht muss man immer nur arbeiten und lernen.“ In der Schreibwerkstatt mit einem Schriftsteller höre ich von einer Schülerin: „Was man denkt und fühlt, das schreibt man, super ist das hier.“ Sie strahlt. Ich frage nach: Ihr schreibt doch auch im Deutschunterricht? Die Schülerin lächelt milde über diese erstaunliche Illusion des Interviewers. „In Deutsch, da lernt man nur, da schreibt man doch nicht auf, was man denkt oder fühlt.“

Wir sind in der Kreuzberger Freiligrath-Schule. Hier gibt es neben Lehrern die „Dritten“, das sind Künstler, Handwerker und andere Menschen, die außerhalb der Schule ihr Kraftfeld haben. In die Schule wurden sie als Botschafter aus dem tätigen Leben geholt. Diese erwachsen gewordenen Erwachsenen, die keine lebenslangen Lehrer sind und deshalb vielleicht die besseren Lehrer, bringen von außen „das Dritte“ in die Schule. Und dieses „Dritte“ ist die Welt.

Die Ergebnisse sind erstaunlich. Die Schreibwerkstatt des Schriftstellers und Übersetzers Guntram Weber gibt jedes Jahr einen Band mit Schülergedichten heraus. Darin findet man Texte wie jenen mit dem Titel „Denken und Sein“, wie gesagt, geschrieben von einem Hauptschüler:

„Jeden Abend denke / ich nach, aber ich weiß nicht, woran ich denke. / Ich denke an die Gedanken, / und die Gedanken / lassen mich denken. / Ich denke / und denke, / aber mir kommt nichts in die Gedanken, / worüber ich denken könnte. / Dieses Denken / macht mich müde, aber ich unterdrücke das Müde-Sein, / indem ich über das Denken nachdenke. / Und das ist gedankenloses Denken.“

Keine Frage, Schülerinnen und Schüler wollen denken, und sie können es. Das verlangen sie immer wieder – und sie sagen es ganz deutlich, man muss es nur hören, was gar nicht so leicht fällt. Ich habe in dieser Schule mehrere Jahre eine Langzeitbeobachtung gedreht. Erst als der Schnitt des Films fertig war, fiel mir auf, dass diese Hauptschüler, die so vorschnell als intellektuelle Versager abgeschoben worden sind, immerzu vom Denken reden.

Das Wort benutzen sie als Abgrenzung gegen das, dem sie sich verweigern – dem Unterricht in seinen Varianten von Diktat und milder Außensteuerung. Gegen eine Schule, die immerzu mit dem Gebot verbunden ist, sich nicht häuten zu dürfen, sondern sich verkleiden zu müssen. Häufig wird das fertige Wissen, nicht nur in der Schule, als Denkverbot ins Gefecht gebracht.

Die Freiligrath-Schule in Berlin-Kreuzberg ist ein Ort, an dem andere Möglichkeiten aufscheinen. Dass die Geburt des Neuen mit Wehen verbunden ist, muss man nicht erwähnen, aber hier wird deutlich, dass freudige Ereignisse nicht schmerzlos zu haben sind. Das gilt für Biografien von Personen, wie für die von Institutionen. Genau das muss ein Hauptthema in der Sterberunde der ersten Moderne werden, die derzeit überall Agonie verbreitet: Wie können die alten Internate der Industriegesellschaft, die Schulen und Hochschulen, zu Kreißsälen umgebaut werden, in denen das Neue zur Welt kommt?

Das Neue bringt immer die nächste Generation. Aber wird es auch von den „Erwachsenen“ angenommen und gemeinsam mit der Jugend kultiviert? Damit es mit dem Klonen der Köpfe ein Ende haben kann, müssen sich die Institutionen selbst zu ihren Biografien durchringen; sie dürfen keine nachgeordneten, unselbstständigen Anstalten mehr sein, sondern müssen zu Orten werden, an denen unterschiedliche Menschen mit ihrem Eigensinn zusammenkommen! Dann erst bilden sich fruchtbare Atmosphären. Dann tun sich produktive Zwischenräume auf. Dann beginnen Dialoge über die mitgebrachten Differenzen, aus denen neue, produktive Unterscheidungen, also Ideen, Pläne, Projekte und Erfindungen, entstehen. Dann kommt Lust am Denken auf.

Eine Chance für Atmosphärenveränderungen in der Bildung bringt nun ausgerechnet das Internet mit sich. Denn jetzt wird für jeden offensichtlich, dass auf dem Meer des Weltwissens keine Landratte mehr zurechtkommt. Wissensland, dieser einst übermächtige, eingebildete Kontinent, ist abgebrannt. Es gibt nur Inseln von Wissen. Und je mehr von diesen Inseln entdeckt werden, umso mehr wachsen auch die Küstenstreifen, die Grenzen zum sich immer weiter ausdehnenden Ozean des Nichtwissens.

Von Insel zu Insel zu surfen wird so die angemessenere Bewegungsform, und das Surfen ist von den Lernenden aller Länder, die sich im Internet verbinden, längst als ihre angemessene Art der Fortbewegung entdeckt worden.

Wenn also der geschlossene Wissensraum in den alten Internaten der Industriegesellschaft nun von den Stürmen des Internets durchweht wird, bekommt, als wäre es eine List der Geschichte, die Kommunikation unter Anwesenden eine zweite Chance. Denn nur face to face kann sich bilden, was virtuell niemals gedeiht: man selbst zu werden, herauszubekommen, ja zu entscheiden, was man will und wer man sein will.

Das wird ein Hauptthema für die Schulen und Universitäten der Zukunft, dass Schüler und Studierende herausbekommen, was sie wollen. Und das ist nicht trivial. Das ist gar nicht selbstverständlich. Sich dem Risiko auszusetzen, etwas selbst zu wollen, ist immer noch der größte Skandal. Damit sich Personen, die an ihrer Biografie arbeiten, gegenseitig mit dieser ansteckenden Gesundheit infizieren, brauchen wir kultivierte Orte, irdische Tempel, in denen die Saat von Individuen aufgeht. Das wären die hohen Schulen in Zeiten des Internets.

Kluge Beobachter sprechen längst nicht mehr von Globalisierung, sondern stattdessen von Glokalisierung. Mit dem „G“ wird ein neues Vorzeichen vor das wieder ins Recht zu setzende Lokale gesetzt. Das Globale und das Lokale werden wie eine Doppelspirale ineinander verschränkt. Kein dumpfes Entweder-oder, wie in den Himmel-und-Hölle-Spielen der abendländischen Tradition, eher eine asiatische Yin-Yang-Spannung, in der die höhere Aufladung des einen Pols nach der Steigerung des anderen verlangt. In diesem Zwischenraum könnten sie gedeihen, die Schulen, Hochschulen und Akademien.

Hinweise:Schüler wollen denken. Unterricht als Diktat und milde Außensteuerung lehnen sie ab.Sich dem Risiko auszusetzen, selbst etwas zu wollen, ist immer noch der größte SkandalDas Klonen der Köpfe, in die das so genannte Wissen hineinkopiert wird, muss einEnde haben