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: Die Open-Air-Raves im Berliner Umland beschwören die Geister der Vormoderne

Schmutzige Füße, zerzauste Bärte

Zu den vielen erwähnenswerten Events, die uns die Sommermonate bieten, gehören ohne Zweifel auch die Open-Air-Raves, die Wochenende für Wochenende im Berliner Umland „steigen“. Zwar könnte man einwenden, dass auch ein Berliner Eigengewächs wie die Love Parade ein Open-Air-Rave sei, doch die Love Parade ist bekanntlich eine Demonstration. Und wenn sie keine Demonstration ist – für diese Einschätzung mag es Gründe geben –, dann ist sie immerhin eine Party, die für ein Gebäude zu groß ist. Das Bemerkenswerte allerdings ist, dass sie auch ohne Gebäude zu groß ist, jedenfalls zu groß für einen Open-Air-Rave, denn auf einem Open-Air-Rave ist es niemals eng.

Zu einem ordentlichen Open-Air-Rave gehören die verschiedensten Dinge, unter anderem eine angemessen weitläufige Freifläche. Diese Freifläche ist zergliedert in mindestens zwei so genannte Floors, also Tanzflächen, es können aber auch mehr sein. Um die Floors hinsichtlich der Lautstärke voneinander zu trennen, gibt es zwischen den Floors den nicht näher gekennzeichneten Raum dazwischen. Der Raum dazwischen wird meist in unterschiedlichster Weise genutzt. Leute sitzen dort, stehen oder liegen, manche schlagen ihr Lager auf, andere wiederum durchqueren den Raum dazwischen, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Der Raum dazwischen ist also das Zentrum eines Open-Air-Raves, er funktioniert wie ein Marktplatz im klassischen Sinn, nicht selten treffen sich dort Gaukler, Wandersleut’ und fahrendes Volk.

Die Publikumsstruktur dieser Veranstaltungen ist bekanntlich immer sehr interessant. Es treffen sich dort Stadtflüchtlinge, Landkommunarden, Alt-Hippies, Neo-Hippies, Goa-Raver, Speed-Kids, Neugierige, „Mad Max“-Statisten, Kinder, DJs und Hunde. Ein Open-Air-Rave ist ein Come-Together der besonderen Art. Auf einem Open-Air-Rave finden Menschen zueinander, die die Existenz des jeweils anderen nicht einmal in Betracht gezogen hätten. Menschen, die Schuhe tragen, und Menschen, die keine Schuhe tragen. Doch dank der künstlichen Verknappung zivilisatorischer Errungenschaften werden alle Unterschiede binnen kürzester Zeit eindrucksvoll aufgeweicht. Hinterher haben alle schmutzige Füße.

Dabei sind Open-Air-Raves ganz allgemein geprägt von der Sehnsucht zum Ursprünglichen. Nicht nur die Austattung der sanitären Einrichtungen ist von einem bemerkenswert konzeptuellen Minimalismus gezeichnet, sondern auch das Nahrungsangebot soll lediglich die Grundbedürfnisse decken. Das Schlichte wird so zwangsläufig zum Besonderen. Der gewürzarme Brei auf luftgetrockneten Brot wird – dargereicht von den staubigen Händen immens zerzauster Bartträger – im Nu zu einem schönen Mahl, das dank Naturnähe überzeugt und sich auszeichnet durch besondere Verbundenheit des Produzenten zum Produkt. Diese Produkte haben oft den Anschein des Gesunden, den möglichen Spätfolgen untrollierten Drogenkonsums sollen damit schon vor Ort begegnet werden. Viele Händler säumen das Gelände und bieten selbst gebastelte Mangelware unter indisch klingenden Namen an. Die Besucher reagieren begeistert und denken: Da hat sich jemand was dabei gedacht.

Wie sich allerdings das quasiarchaische Großspektakel mit der hochtechnisierten und gewissermaßen modernen Musik verträgt und was in dem Zusammenhang auch die eindrucksvollen Lichtspiele und Lasershows zu bedeuten haben, müsste noch näher untersucht werden.

HARALD PETERS