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Einfach so tun, als ob man glücklich ist – von Haruki Murakamis Roman „Gefährliche Geliebte“, Pokémon-Figuren und anderen Jazzballaden

von KOLJA MENSING

In Berlin hat vor nicht allzu langer Zeit eine Filiale der österreichischen Großbuchhandlung Libro eröffnet. Sie befindet sich im Erdgeschoss des Europa-Centers und verfolgt die Verkaufsstrategie „Tainment“. Man kann im Libro-Store also nicht nur Bücher kaufen, sondern auch andere Unterhaltungsartikel, zum Beispiel Videos, CDs, Kinderspielzeug und sogar ausgewählte Heimelektronik. Die Videos stehen im Bereich „Entertainment“, Nachschlagwerke sind unter „Edu/Infotainment“ abgelegt, unterhaltsamere Bücher dagegen finden sich im Bereich „Lifestyle“.

Bei meinem ersten Besuch fand ich dort auf einem großflächigen, altarähnlichen Verkaufstisch im Bereich „Lifestyle“ ganz in der Nähe der Pokémon-Figuren zwischen verschiedenen in freundlichen Grün- und Gelbtönen gehaltenen Accessoires eine limonenfarbene Literaturanthologie namens „Pop!“, die von Bela Stern und Julian Weiss herausgegeben war: „Unter ‚populärer‘ Kultur wird uns heute alles Mögliche als Trend verkauft, was sich schon morgen nicht mehr als ramschtischtauglich erweist“, las ich, vor dem niedrigen Tisch kniend, im Vorwort: „Bei so viel preisgünstigem Lebensgefühl passiert es schnell, dass man vor lauter Sonderangeboten den Überblick verliert.“

Mir gefiel die kleine Sammlung, und ich vergaß über das Blättern und Lesen hinweg den eigentlichen Anlass meines Besuches: Ich wollte – im Bereich Entertainment – nach einer Jazz-CD Ausschau halten, die mir bei meiner Arbeit als Literaturkritiker behilflich sein sollte. Ich hatte gerade Haruki Murakamis Buch „Gefährliche Geliebte“ gelesen, in dem zwei Balladen von Nat King Cole vorkommen: „Pretend“ und „South of the Border“. Den ersten Titel habe ich selbst auf einer Schallplatte, einer der ganz wenigen Jazzplatten, die ich überhaupt besitze, den anderen hatte ich noch nie gehört. Haruki Murakami aber erzählt „Gefährliche Geliebte“ entlang dieser zwei Stücke.

Shimamotos Vater erwarb in den frühen 60er-Jahren eine Stereoanlage, eine wirklich gute Anlage, besaß allerdings nur etwa fünfzehn Schallplatten. Diese fünfzehn Platten hörten Shimamoto und ihr Schulfreund Hajime eine Zeitlang beinahe jeden Nachmittag. Beide waren damals zwölf Jahre alt, dachten wenig, vielleicht gar nicht an Sex, und nur wenn sie sich gegenseitig bei der Erfüllung des Rituals betrachteten, das sie beide verband, wurden sie manchmal verlegen: „Für die Schallplatten war Shimamoto verantwortlich. Sie nahm eine aus der Hülle, legte sie behutsam auf den Plattenteller, ohne die Rillen mit den Fingern zu berühren, und nachdem sie die Nadel mit einer winzigen Bürste von jeglichem Staub befreit hatte, setzte sie mit allergrößter Vorsicht den Tonarm auf. Wenn die Platte zu Ende war, besprühte sie sie mit einem Spray, wischte sie mit einem Reinigungstuch ab . . . Ihr Vater hatte ihr dieses Vorgehen beigebracht, und sie befolgte seine Anweisungen mit beängstigend ernstem Gesicht, leicht zusammengekniffenen Augen, und fast ohne zu atmen . . . Erst wenn die Schallplatte wieder sicher im Regal stand, wandte sie sich mir zu und schenkte mir ein kleines Lächeln.“

Shimamoto verlässt mit ihrer Familie die Vorortsiedlung, in der Hajime lebt. Die beiden sehen sich nie wieder. Hajime beendet die Schule, studiert, protestiert ein bisschen mit den anderen Studenten, arbeitet dann in einem Verlag, heiratet und eröffnet einen Jazzclub. Er hat zwei Töchter und fährt einen BMW 320 und ist nicht direkt unglücklich, aber . . .: „Ich führte das Leben eines anderen, nicht mein eigenes. Wie viel an der Person, die ich ‚ich‘ nannte, war wirklich ich? Und wie viel nicht?“

Hajime, dessen Name „Beginn“ bedeutet und der zu der Generation gehört, die nie ein anderes als das moderne, staubfreie und von populärer westlicher Kultur durchzogene Japan kennen gelernt hat, dieser Hajime hat inmitten des preisgünstigen Lebensgefühls den Überblick über sein eigenes Leben verloren. Haruki Murakami, der selbst 1949 geboren ist und eine Zeit lang einen Jazzclub führte, hat in vielen Romanen und Kurzgeschichten von dieser leeren Endlosrille geschrieben, in der sich seine Generation verfangen hat – allerdings nie mit einem enttäuschten oder gar verächtlichen Blick, sondern auf Grundlage eines leisen, zart verknisterten Zweifels: „Pretend you’re happy when you’re blue, it isn’t very hard to do“, singt Nat King Cole auf meiner Schallplatte. „Das Lied und das reizende Lächeln, das Shimamotos Gesicht stets erhellte, waren für mich ein und dasselbe“, erinnert sich Hajime: „Der Text schien eine bestimmte Lebenseinstellung zum Ausdruck zu bringen – auch wenn es mir bisweilen schwer fiel, das Leben so zu sehen.“

Von dieser Anstrengung – die gleiche übrigens, mit der er sich nach dem unbekannten Land „südlich der Grenze“ sehnt – berichtet Hajime in Haruki Murakamis „Gefährliche Geliebte“. Und er erzählt von der schmerzlichen Erfahrung, wenn Leben und Lebenseinstellung, Life und Lifestyle für kurze Momente deckungsgleich werden. Das sind Abgründe. Im Grunde genommen bin ich sehr zufrieden, dass ich im CD-Regal der Tainment-Buchhandlung Libro „South of the Border“, die andere Ballade von Nat King Cole, nicht gefunden habe.

Die Pokémon-Figur, mit der ich den Laden schließlich verließ, gefällt mir allerdings sehr. Sie dreht sich auf meinem Schallplattenspieler und macht ein glückliches Gesicht. Vielleicht tut sie aber auch nur so. Auch ich kenne den Zweifel.

P. S. Drei Mitteilungen der Abteilung „Edu-/Infotainment:

1. Der bekannte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki lobte in seiner Fernsehsendung „Das literarische Quartett“ Haruki Murakamis „Gefährliche Geliebte“. Mir gefällt das Buch auch.

2. Haruki Murakami gehört zusammen Banana Yoshimoto zu den bekanntesten Autoren Japans. Sein Hauptwerk trägt den Titel „Mister Aufziehvogel“ und ist ebenfalls sehr zu empfehlen.

3. Sowohl „Mister Aufziehvogel“ als auch „Gefährliche Geliebte“ sind von Haruki Murakami in seiner Muttersprache geschrieben worden, auf Japanisch also. Der DuMont-Verlag hat sie allerdings beide aus der englischen Übersetzung ins Deutsche übertragen lassen. Das ist ein Skandal.

Haruki Murakami: „Gefährliche Geliebte“. Aus dem Englischen (sic!) von Giovanni und Ditte Bandini. DuMont, Köln 2000, 230 Seiten, 39,80 DM