Steinreich und korrekt

Er liebt seine Steine, wie andere Diamanten und Juwelen: Dieter Walcker, der Rübezahl vom Tübinger Galgenberg, recycelt seit elf Jahren Natursteine
von MARIANNE MÖSLE

Der Bürgermeister aus Deckenpfronn persönlich ist im ehemaligen Munitionslager des französischen Militärs auf dem Tübinger Galgenberg vorgefahren. Frühmorgens schon, um ein paar alte Steine abzuholen. „Was er damit macht? Ich weiß nicht, aber der hat immer was vor.“– Dieter Walcker, der Steinesammler auf dem Schindhau zwischen Tübingen und Wankheim, kennt den Schultes gut. Vor kurzem hat er gebrauchte Natursteine für die Friedhofsmauer geordert, jetzt braucht er Torpfosten.

Von weit her dringt Straßenlärm, mischt sich in das heulende Summen des Radladers. Drei lange Stelen lädt der auf den Pritschenwagen, dann ist es wieder ruhig im Wald oberhalb der Stadt. Mit einem verbeulten Kastenwagen holpert und bahnt sich der Chef von „Natursteine Walcker“ einen Weg durch den Schlamm, organisiert den Tag in seinem Reich. 22 Hektar Natur pur. Bäume, Tümpel, Moos und Unmengen von gebrauchten Steinen zwischen alten Bunkern, Fahrzeugschuppen, Wachhäuschen und einer ehemaligen Gartenwirtschaft, eingezäunt.

Wie ein Cowboy, breitbeinig, kommt der Herr der Steine daher, eingezwängt in hautenge Jeans mit Hosenträger und Lederkittel. Eine Schlägerkappe hält ihm die langen Haare aus dem Gesicht. Handfest ist er, ein echter schwäbischer Rübezahl, durchtrieben, aber gutmütig bis zum Anschlag. „Alles raus, alles, was nach Torbogen aussieht“, sagt er dem Baggerführer. Der weiß Bescheid, versenkt seine Schaufel in einen fünf Meter hohen Berg aus Heilbronner Schilfsandstein. Überreste vom ehemaligen Allianzgebäude in der Stuttgarter Marienstraße. „Schade drum, denn jeder einzelne Stein ist ein Kunstobjekt. Wie kann man so etwas nur einreißen? Innerhalb von zwei Tagen.“ Vor etwa hundert Jahren haben dreißig Steinmetze über zwei Jahre lang daran gemeißelt und gehauen. Ein Skandal ist das in Walckers Augen, und nicht nur das. „Wenn ich an die antiken wunderschön kannelierten Säulen vom historischen Keplergymnasium in Freiburg denke . . .“

Dem Bagger fehle ein Zahn, moniert der Baggerführer. „Jetzt werden alle angeschweißt“, entscheidet der Chef. In der firmeneigenen Werkstatt, irgendwo versteckt unter alten Eichen und Lärchen in diesem verwunschenen Waldstück. „Ein Wahnsinnsmaterial der Stein, der schrottet mir alles.“ Was den verwegenen Steinemenschen aber nicht davon abhält, ihn zu lieben wie andere ihre Diamanten und Juwelen. Seit elf Jahren betreibt er den Handel mit gebrauchten Natursteinen, mit Abbruchmaterial, mit Bauschutt.

Als einer der Ersten in Deutschland hatte der gelernte Maurer, Schrotthändler und feurige Verfechter der Rycyclingidee den Wert des oft Jahrhunderte alten Materials aus Kellern, Häusern und aus dem Straßenbau erkannt. Mehr oder weniger zufällig, meint er. Obwohl er ihn, den Stein, „väterlicherseits und mütterlicherseits in die Wiege gelegt bekommen“ hat. „Die Oma“, was muss sie für eine beeindruckende Frau gewesen sein, sie faszinierte ihren Enkel zeitlebens mit Geschichten aus den Steinbrüchen in Sulzau, wo sie „als Leibeigene des Barons Rassler von der Weidenburg Frondienst leistete“.

Wie er dazu kam? Dazu hat der Mann mit dem Lachen eines Pferdediebs die verrückte Story parat. Ein Haus hatte er abgebrochen, mit den alten Balken ein neues errichtet. Dem Abbruchunternehmer versprach er – gegen gutes Entgelt selbstverständlich – auch die Grundmauern zu entsorgen. Sprich, er ließ sie auf das brachliegende Gelände einer Sägerei kippen. „Eines Morgens“, so fährt er fort, und keiner weiß, was tatsächlich wahr dran ist, „eines Morgens klingelt ein Tübinger Architekt an der Haustür, plötzlich steht er vor meinem Bett und schiebt mir einen Briefumschlag übers Nachtkäschtle.“ Schutt und Steine wollte der haben, und er bezahlte freiwillig eine beachtliche Summe. Von diesem Tag an ist Dieter Walcker unter die Frühaufsteher gegangen.

Auf einer Lichtung, eingebettet in hohes Schilfgras döst ein alter Hanomag. Überzogen von einer moosigen Patina rostet er im Duett mit dem einst knallgelb gestrichenen „Ohrabschneider“, einem Radlader von anno dazumal, vor sich hin. Verschrottet werden die nicht, niemals, sie waren Walckers Grundkapital, seine allerersten Fahrzeuge, daran hängt sein Herz. Mit dreihundert Mark Startkapital, ohne Kredit (welche Bank, bittschön, setzt auf Schutt und Steine?) und ohne Erspartes machte der Steinerecycler seine eigene Firma auf.

„Dann ging’s Schlag auf Schlag.“ Walcker prüfte alte Steine, verhandelte mit Abbruchfirmen, lud auf, kippte ab, verkaufte an Landschaftsgärtner und Architekten und verdiente gutes Geld. Zuerst lächelte man über den langhaarigen Freak, bald jedoch war seine Steinhalde ein beliebtes Ausflugsziel. Richtig salonfähig wurde der gebrauchte Stein 1993, spätestens bei der Internationalen Gartenausstellung in Stuttgart. Walcker karrte sein Material für Weinbergmauern ins „Blühende Barock“ in Ludwigsburg und lieferte antike Natursteine für eine Schlossmauer der Baronin von Tessin in Kilchberg. Davon kaufte er sich neue Bagger, Radlader und Lkws, „an den Fünfzehntonnern konnte man die Entwicklung der Firma ablesen“.

„Steine sind nicht stumm, Steine erzählen Geschichten“, das klingt banal, man muss lernen, sie zu hören. Der Herr der Steine hört viele, wenn er über den Platz geht. Zeigt auf riesige Ammoniten im Muschelkalk, erzählt aus dem Kreidezeitalter, führt zur dritten Schicht Pflastersteine aus dem Rottenburger Schloss, an denen noch Pech und Schwefel aus grauer Vorzeit hängen, erklärt das seltsame Eisenteil in einem Stubensandsteinquader aus Stuttgart als Geschoss aus dem Zweiten Weltkrieg.

Dieter Walcker ist nicht zu stoppen: jedem Stein seine Geschichte. Zum einen oder anderen steuert er sogar ein Märchen bei, so wie er es von seiner Großmutter gehört hat. Zu den alten Sautrögen und der „Krautstande“ auf seinem so genannten „Ausstellungsgelände“ zum Beispiel. Steinmetzgesellen haben diese mühsam mit dem Zweispitz ausgehauen. Vor zwei-, dreihundert Jahren, weiß der Rübezahl, verdienten sie sich damit ein warmes Winterlager. Machten die Gesellen ihre Sache gut, füllte der Bauer den Trog im Frühjahr mit Korn auf. Da jedoch jegliche Naturalien nur umständlicher Ballast auf der Wanderschaft waren, tauschten die Gesellen diese ein . . . und erfanden auf diese Weise das Märchen vom „Hans im Glück“.

Der Herr der Steine sammelt fast ausschließlich heimisches Material: Stubensandstein, Räthsandstein, Schilfsandstein, Bundsandstein, Muschelkalk und schwarzen, weißen und braunen Jura aus dem Tiefbau. Er sei, Gott sei Dank, nicht auf billigen Stoff aus Dritte-Welt-Ländern angewiesen, sagt er. In China schickten sie politische Gefangene in den Steinbruch, und in Marokko – hat er selbst gesehen – arbeiten Jungs ohne Mundschutz mit den Steinen. „Sagen wir so, ich kann’s mir leisten, nicht in diesen Markt einzusteigen.“

Zwei Gartenbauer tummeln sich auf dem Gelände, suchen mit Block und Bleistift in der Hand nach geeigneten Steinen. Bagger, Specht und Steinmetz klopfen um die Wette. Es ist lebhaft geworden. Hinter einer Staubwolke bohrt, schneidet und meißelt einer mit Schutzbrille an einem Gartentrog. Der Steinbildhauer, Walcker bespricht die nächsten Aufträge mit ihm. Denn regelmäßig im Frühsommer rücken sie zu Scharen an, die Hobbygärtner, die Landschaftgärtner und Gartenarchitekten. Streifen durch Rübezahls steiniges Reich und spähen nach geeigneten Steinen für den Gartenweg oder den Wasserspeier.

Die Sonne bricht gleißend durch die Baumwipfel, der Steinerecycler watet durch breite Schlammfurchen, vorbei an abgeschliffenen Straßenrinnsteinen aus Reutlingen, an Schwarzjura vom Stuttgarter Flughafen, an riesigen Kellergewölbeplatten: „Noch heute profitieren wir vom Geschäft und Wissen der Steinmetze von früher.“ Zwischen abgefahrenen Scheuerplatten aus Freudenstadt blühen Butterblumen. Auf fein verzierten Säulen und Arkaden aus der Jugendstilfassade der kürzlich abgerissenen Hauptpost in Bad Cannstatt tummeln sich Marienkäfer.

Oft bleibt von den schön behauenen Steinen nach dem freien Fall aus zehn oder zwanzig Meter Höhe nicht mehr viel übrig. Nur wenige überleben, „je nachdem, Baggerführer lassen sich gegen gutes Trinkgeld sehr motivieren“. Aber auch Ruinen haben ihren Reiz. Teile der muschelförmig ausgehauenen Jugendstilarkaden haben schon ihren Abnehmer gefunden. Ein Kunde will sich seinen Swimmingpool damit ausbauen, eine verwunschenes Atlantis unter Wasser anlegen. „Und hier diese alte Scheißhausgrube. Da baut sich nun der Herr Professor sein Saunabecken draus.“

Wieder zurück im ehemaligen Wachhäuschen, wo der Herr der Steine sein Büro bezogen hat, wartet ein Auftrag. Beim Straßenbau in Ludwigsburg sind interessante Steine rausgekommen. Walcker greift zum Handy, gleich heute nachmittag will er hinfahren, klopfen, prüfen, aufladen, abkippen, sichten und verkaufen.

MARIANNE MÖSLE, 39, lebt als freie Autorin in Tübingen