Buenos Aires Beauty

Zwölf Millionen Menschen leben im Großraum Buenos Aires. Vor allem den Mittelstand zieht es in „private Stadtteile“ wie Pilar. Wie in vielen Städten Lateinamerikas entsteht damit eine neue urbane Topographie aus Arm und Reich

aus Buenos Aires INGO MALCHER

Etwa 50 Minuten hat die Fahrt auf der Landstraße Panamerikana aus der City von Buenos Aires in Richtung Norden gedauert. 50 Minuten kämpft man sich durch das verstopfte Zentrum, mit stinkenden Bussen und wahnsinnigem Verkehr und noch wahnsinnigeren Autofahrern. In 50 Minuten geht es vorbei an Industriegürteln und Slumsiedlungen, die zum Teil so dicht an die Eisenbahnschienen gebaut sind, dass die Blechhütten zusammenklappen, sobald der Lokführer mehr als 30 Stundenkilometer drauf hat.

Aber nach 50 Minuten ist man in einer anderen Welt. Genauer gesagt in Pilar. Hier präsentiert sich das neue Buenos Aires: noble Hotels, glitzernde Büropaläste, angesagte Bars und eine ganze Menge privater Stadtteile. Eine hohe Mauer und Wachtürme schützen die dort Wohnenden vor denen, die draußen bleiben müssen. Korrekt und geduldig ist der Wächter an der Schranke. Sorgfältig notiert er das Autokennzeichen und die Ausweisnummer in ein Besucherbuch. Dann schaut er auf und fragt: „Wer erwartet Sie?“ Als der genannte Name für heute keinen Besuch angemeldet hat, ruft er an, ob er die Herrschaften einlassen darf. „Alles klar“, die Schranke öffnet sich.

Dahinter erscheint das Disneyland des Kleinbürgers: Liebliche postmoderne Einfamilienhäuser, neben dem Haus die Doppelgarage, dahinter ein Pool. Kinder radeln auf den Straßen oder sitzen im Haus an der Playstation. Kein Zaun, keine Hecke trennt die Grundstücke voneinander, hier sind alle eins.

Die südamerikanische Stadt der Zukunft heißt „privater Stadtteil“. In einem Meer von Armensiedlungen und schlechter Infrastruktur haben sich vor allem am nördlichen Stadtrand von Buenos Aires diese Areale angesiedelt. Früher waren die Countries Wochenendrefugium der oberen Mittelklasse, bis findige Makler vor zehn Jahren entdeckten, dass man den Wert des Bodens leicht verzehnfachen kann, wenn man einige wertlose Hektar Land für ein paar Pesos ersteht, eine hohe Mauer darum herum zieht und Häuser baut.

Suburbane Siedlungen dieses Charakters sind heute die Regel für die Entwicklung großer Metropolen Lateinamerikas. Zum ersten Mal entstanden diese „Ghettos der Reichen“ in den 70er Jahren in den Millionenstädten Caracas und São Paulo. Heute bilden sie die eigentlichen New Towns jenseits der Cities von Mexiko, Rio oder La Paz. Das neue Suburbania überspringt die peripheren Quartiere der Armen und sucht sich neue bauliche und soziale Leitbilder jenseits verschmutzter Luft, sinkenden Lebensstandards, Alltagskriminalität und sozialer Polarisierung auf neuen, großen Flächen an der Subperipherie und an Magistralen in Richtung Innenstadt, auf denen sich tagtäglich der Autorverkehr voranquält.

Städte wie Pilar bilden das Symbol für die Stadtflucht der Mittelklasse, die die neoliberalen Umstrukturierungen in der Wirtschaft überstanden hat, ohne in die Unterschicht abzurutschen. „Wir schaffen kein Produkt für die Masse, sondern für eine gehobene Mittelklasse, die Sicherheit und neue Lebensqualität sucht“, sagt Javier Monteserin, Geschäftsführer der Immobilienfirma Fallon, der größten in Buenos Aires auf dem Gebiet der geschlossenen Stadtteile. Zehn Millionen Dollar Umsatz macht seine Firma im Jahr, Tendenz steigend.

250 Siedlungen für jeweils Zehntausende gibt es schon um Buenos Aires. Nicht die klassische argentinische Bourgeosie sammelt sich hier, sagt die Soziologin Maria Cecilia Arizaga, von der Universität von Buenos Aires. Seit mehreren Jahren forscht sie über die neuen Lebensformen. Es sind vor allem junge Familien um die 30, die zwischen 6.000 und 12.000 Mark Einkommen pro Monat beziehen. Für sie sind die geschlossenen Stadtteile Dörfer der Illusionen – organisiert von privaten Investoren. An die Stelle des Staates tritt die private Stadtteilverwaltung. Die gesamten Infrastrukturen wurden privat gebaut und privat bezahlt. Aus einer Bürgergesellschaft wurde eine Gemeinschaft der Nutzer. Der Mensch ist hier nicht mehr Bürger, sondern Kunde. Und schon fragt sich mancher, wozu noch Steuern bezahlen an den Staat?

Während die Countries blühen, stirbt in Buenos Aires das Zentrum. Die große Vision von der kompakten, verdichteten Stadt, in der genügend Bewohner leben, um den öffentlichen Nahverkehr effizient zu machen, von einer gemischten Nutzung von Gebäuden mit Wohnungen, Geschäften und Büros, um die Stadtteile lebendig zumachen, versiegt. Zwar gibt es auch Stadtteile wie Palermo-Viejo, die in den vergangenen zehn Jahren wiederbelebt wurden, als plötzlich viele Leute sich bewußt für ein Leben in der Stadt entschieden und eine Zone aus ehemaligen Fabriken und Gewerbe in eine gute Adresse zum Wohnen verwandelten.

Der eigentliche Wachstum oder die Dynamik aber heißt Pilar. Immer mehr setzt sich das US-amerikanische Modell einer Autostadt durch. Ohne den Fuß aus dem Auto zu setzen gelangt man von der Haustür ins Shopping-Center oder ins Kino. Miami in Argentinien.

Mit Pilar will die argentinische Regierung hoch hinaus. Die Stadt soll die erste Satellitenstadt von Buenos Aires werden. Statt auf Integration und politische Verantworung setzt die Stadtregierung dabei bewusst auf Ausgrenzung und Ghettobildung. Die zerfließende, randständige Stadt grenzt sich ab und sozial verschlissene Teile aus. Erst vor kurzem blockierten Bewohner der Armensiedlungen dort die Straße. Auf ihren Transparenten stand: „Auch wir sind Pilar.“ Sie haben kein Wasser und keinen Strom, da sie für die privaten Dienstleister kein interessanter Markt sind. Manche von ihnen überqueren täglich die Mauer in die privaten Stadtteile. Sie kommen als Gärtner oder Wachmann, als Putzfrau oder Köchin. Längst haben die Maklerfirmen anderes im Auge. Ihr nächstes Ziel: die künstlichen Städte: Büros, Supermarkt, und Theater alles hinter der Mauer. Pilar del Este wird bei Kilometer 55 an der Panamerikana schon gebaut. Beim Rundgang stößt man auf große Schilder: „Hier werden Sie zur Kirche gehen“ oder „Hier werden Sie einkaufen.“ In diesen Terrarien soll es den Bewohnern an nichts fehlen. Einen Grund, die Oase zu verlassen, gibt es nicht.