Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß

Im Rahmen des französischen Filmsommers zeigt das fsk-Kino eine Werkschau mit elf Filmen von Jean-Luc Godard. Vom Sehen als Glück der Erkenntnis

von HANNS ZISCHLER

In „Schwarzweiß“ kündigte sich der Film an, und die Lettern allein genügten damals, um eine lang anhaltende Verwirrung in mir auszulösen. Damals – das war 1964 in einem kleinen Filmkunstkino in Ingolstadt an der Donau. Ich war siebzehn und sah (und sehe heute noch) „Eine verheiratete Frau“ und sah zum ersten Mal und größer und näher und überwältigender als im Leben die Nackheit einer Frau, die Hände eines Mannes, der wie ein Schatten ihr nah ist, ihren Schultern, ihrem Nacken, ihrem Becken, ihren Knien.

Meine Verwirrung steigerte sich noch und übergipfelte den sinnlichen Taumel, der von diesen fragmentierten Körperbildern ausging, als in dem Film etwas geschah, das meinen Verstand jäh überstieg. Die Frau besuchte in einem Kino am Flughafen von Orly den Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais, um ihn unmittelbar nach der Eingangssequenz wieder zu verlassen – sorglos, unbeteiligt, wie man eben aus einem Film wieder hinausgeht, wenn man sich nicht oder schlecht unterhalten fühlt. Ich kann aus der Entfernung der Jahre schwer beschreiben, ob es dieser Augenblick war oder die für mich nicht nachvollziehbare Synthese verschiedener (sinnlicher, rationaler, cinematografischer) Augenblicke, der mir wie ein Schock in die Glieder fuhr.

Schließlich war, im pädagogisch unerschütterlichen Kanon der „Erziehung nach Auschwitz“ dieser Film das Menetekel, an dem die jugendlichen Augen das schlechthin Unvorstellbare entziffern sollten. Der Schock steigerte sich für mich noch dadurch, dass sich die Frau unmittelbar nach dem frühen Verlassen des Kinos mit ihrem Liebhaber in einem Hotel trifft. Unentrinnbar war ich in einem Film gefangen, der in Frage stellte, was uns als ein bedingungsloses Muss vor Augen gestellt wurde.

Mir dämmerte, dass der Regisseur wahrscheinlich mehr wollte, als eine Figur zu düpieren; ich ahnte, dass ihre Handlung auf mich, den Zuschauer, zurückschlagen sollte. Ich war fast allein im Saal. Mit den Lehrern, die vom Kinogehen zumindest offiziell nicht viel hielten und mit den Mitschülern, die andere Filme bevorzugten, konnte ich über diesen Vorfall – und ein solcher war es spätestens beim Verlassen des Kinos – nicht sprechen.

Godards Namen habe ich mir damals eingeprägt, stand er doch für eine merkwürdige und sehr produktive Verstörung. Und auch den Namen des Mannes, der in Godards Film als Regisseur auftritt und dem etwas ahnungslosen Ehepaar über den Frankfurter Auschwitzprozess berichtet (und erfahren muss, dass das Unverständnis seiner Gesprächspartner von diesen selbst wie eine lässliche Sünde abgetan wird: „Ah, qui Hitler“).

Was in den sich anbahnenden Orientierungen meines Denkens und Fühlens auf halbwegs sicherem Grund zu stehen schien, war mit einem Schlag im dunklen Raum eines Kinosaals vor schwarzweißer Projektion, aus den Fugen geraten. Die Erfahrung einer Unwucht, einer unvorhersehbaren Exzentrik, einer jähen Infragestellung hatte sich meiner bemächtigt.

1988 stellte mich die Schweizer Produktion Godard vor – er war auf der Suche nach einem Schauspieler, der sowohl einen deutschen Wehrmachtsoffizier als auch dessen Sohn darstellen sollte. Gewidmet ist der kurze Videofilm (13 Min.) dem Andenken an den jungen Philosophen Valentin Feldmann, der 23-jährig als Widerständler von den Deutschen erschossen wird. Als der Sohn des deutschen Offiziers den Mord rekonstruieren will, trifft er auf einen Violinisten, der anstatt eines Hinweises mit einer rabiat gespielten und alle Rede und Verständigung ausschlagenden Partita von Bach „antwortet“ – bis der Fragende von selbst verstummt.

In einer unerhörten Schichtung und Überlagerung hat Godard in diesem kurzen Video Musik auf Rede, Rede auf Geräusche, Geräusche auf Musik getürmt, ohne je ins Chaos einer qualitäts- oder inhaltslosen Vielfältigkeit abzugleiten. Tatsächlich ist dieser politische Film unmittelbar von Bach inspiriert; dessen Fugentechnik strukturiert die Erzählweise und verdichtet, was in der bloßen Nacherzählung eine böse Anekdote ist, zu einem „vertikalen“ Drama.

Zwei Jahre später, 1990, begannen nach einer Reise quer durch die im Verschwinden begriffene DDR die Dreharbeiten zu „Allemagne Neuf Zero“. In diesem Film nun wurde Godards Technik der zitativen Überlagerung durch den Gegenstand selbst noch weiter und komplexer vorangetrieben – am Ende einer Historie konvergieren im Medium der sich selbst definierenden Filmgeschichte eine fiktive Person (der vergessene, moribunde Spion Lemmy Caution) mit den fragmentarischen Appellen an eine gewesene deutsche Kultur.

Godards Filme sehen ist ein langwieriger, von vielen Rückschlägen, Trugschlüssen und Augentäuschungen begleiteter, Glück der Erkenntnis verheißender Prozess. Sehen heißt hier im emphatischen Sinn: lesen, hören, wiedererinnern. Die zunehmend heterogene Form seiner kinematografischen Arbeiten ist vielleicht nur sehr komplexen Gedichten und musikalischen Kompositionen vergleichbar.

Werkschau Jean-Luc Godard bis 12. Juli im fsk am Oranienplatz