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: Zeitalter Europa

Jacques Chirac hat gestern in vielfacher Hinsicht Neuland betreten: Er war der erste ausländische Politiker, der eine Rede in dem nach Berlin verlegten Bundestag hielt; er war der erste Chef eines EU-Mitgliedslandes, der sein europapolitisches Programm nicht zu Hause, sondern in der Hauptstadt des Nachbarlandes verkündete; und er war der erste französische Staatspräsident, der es wagte, „Vive l’Allemagne!“ zu rufen – dazu aus dem Reichstagsgebäude, von dem aus Deutschland mehrfach einem Krieg gegen sein Land zugestimmt hat. Deswegen war gestern ein historischer Tag – gespickt mit Tabubrüchen und Annäherungen in großen Schritten. Die Aussöhnung ist gelungen. Chiracs Hommage an die deutschen und französischen Spitzenpolitiker des Nachkriegs-Europas war eine Form des Abschieds von ihrer Epoche.

Kommentarvon DOROTHEA HAHN

Jenseits der Symbolik war die Rede von Chirac, der die offizielle außenpolitische Position der gesamten französischen Spitze vertritt, auch inhaltlich als „historisch“ angekündigt. Und tatsächlich hat Chirac europäische Ziele definiert, die weit über die nächsten sechs Monate hinausgehen, in denen Frankreich den EU-Vorsitz innehat. Sie sind nicht weit von jenen Vorstellungen entfernt, die der deutsche Außenminister kürzlich in einer „privaten“ Rede veröffentlichte. Seit gestern wissen wir, dass auch das offizielle Frankreich eine europäische Verfassung wünscht und dass es mit der Idee einer europäischen Avantgarde einverstanden ist. Dass Paris bereit ist, zusammen mit Berlin und anderen EU-Partnern ein „Kern-Europa“ zu bilden, ein „Gravitationszentrum“ oder ein „Pionier-Europa“, das vorpreschen und andere Europäer zurücklassen will.

Doch Chiracs Plädoyer für eine europäische Verfassung schließt so etwas wie die vereinigten Staaten Europas aus. Ein föderales Europa nach deutschem oder US-amerikanischem Modell will Frankreich nicht. Um dies zu unterstreichen und um mit einem Schlag zugleich solche Gefühle wie das neue deutsche Selbstbewusstsein und den französischen (und britischen) Souveränismus zu stärken, plädierte Chirac gestern in Berlin zugleich für einen deutschen Sitz im Weltsicherheitsrat.

Mehr europäische Integration einerseits und mehr nationalstaatliche (deutsche) Repräsentation andererseits – diese beiden widersprüchlichen Signale in einer historischen Rede zeigen, wie weit Europa tatsächlich noch von einer gemeinsamen Verfassung entfernt ist.