Vergessene Erzählungen

500 Jahre nach der Ankunft der Portugiesen kämpfen die Brasilianer um die „wahre“ Geschichte ihrer Nation. Welche Interpretation sich durchsetzt, ist auch eine Frage der Macht

von DAWID DANILO BARTELT

Die Tränengasschwaden sind abgezogen, die Gummikugeln vom Sand zugeweht, die Splitter beiseite gefegt. Gewaltsam hielt die brasilianische Militärpolizei Indígenas, Afrobrasilianer und Landlose von den offiziellen Festen fern, die die Ankunft der Portugiesen vor 500 Jahren feierten. In diesen Auseinandersetzungen sind nicht nur Körper zusammengestoßen. Und es geht nicht nur um aktuelle Politik – etwa die unvollendete Agrarreform. Es prallten auch zwei „Erzählungen“ der brasilianischen Geschichte direkt aufeinander. Auch die Frage nach der „wahren“ Geschichte Brasiliens ist eine Frage der Macht.

Zunächst: So radikal sich beide Erzählungen gegenüber stehen, halten sie doch beide am Jahr 1500 als tatsächlich konstitutives Datum fest. Für die einen beendete dieser Tag eine eigene Geschichte, für die anderen gab er ihr das Leben. Den Nachfahren der Indios und Sklaven gilt die 500-jährige Folgezeit als Kontinuum der Unterdrückung, Entrechtung und Verdinglichung. Das offizielle Brasilien hingegen feiert mit der Ankunft der Portugiesen den Beginn der europäischen Modernität und die Geburtsstunde der brasilianischen Nation. Oder wie es der brasilianische Vizepräsident Marco Maciel ausdrückt: In dieser Nation „kamen Menschen unterschiedlicher Herkunft in kreativer Form zusammen und verbanden sich geschwisterlich mit dem Ziel, dieses Land aufzubauen“.

Es scheint nahe liegend, der ersten Erzählung den historiografischen Zuschlag zu erteilen und die zweite als Herrschaftsideologie zu brandmarken. Immerhin brachte Brasilien 322 der 500 Jahre als Kolonie zu und gründete 388 Jahre lang seine Wirtschaft und Gesellschaft auf Sklaverei. Doch der Konflikt ist nicht dadurch zu lösen, dass die Modernisierungserzählung schlicht gelöscht wird. Das Dilemma beginnt schon mit Brasiliens ersten Nationalheroen. Von den frühen Siedlungen im Gebiet des heutigen São Paulo aus zogen im 16. und 17. Jahrhundert die „bandeirantes“ ins Landesinnere, die von der traditionellen Geschichtsschreibung zu Nationsgründern geadelt wurden. Dabei lautete ihr Eigenauftrag, das Inland zu „pazifizieren“. Ihre Taktik war schlicht: Die Indígenas, die sich nicht leicht genug versklaven ließen, wurden ermordet. Dennoch können die schärfsten intellektuellen Kritiker in Brasilien das Dilemma nicht lösen, dass sie selbst ohne die Bandeirantes nicht existierten. Das heutige Brasilien ist gleichsam so unrettbar europäisch, wie es unleugbar auf Gewalt, Genozid und Sklaverei gegründet ist.

Ein zweites, kleines Jubiläum dieses Jahres ging bezeichnender unter. Vor vierzig Jahren, am 21. April 1960 weihte Brasiliens damaliger Präsident Juscelino Kubitschek die neue Bundeshauptstadt ein. Der Nachfahre tschechischer Einwanderer verpflanzte damit das politische Zentrum auf die fast menschenleere Hochebene im Landesinneren. Dieser Akt symbolisiert zwei weitere Stränge der nationalen Erzählung. In der Konkurrenz der beiden dominanten Gründungsmythen – Unterdrückung versus Modernisierung – erhalten sie jedoch kaum Gehör. Sie können aber von einer dritten und vierten Gründung Brasiliens erzählen.

Die eine ist die Geschichte des vergessenen Brasiliens. Als 1902 der junge Ingenieur Euclides da Cunha sein Buch „Os Sertões“ („Hinterländer“) veröffentlichte, gab er diesem vergessenen Brasilien wortgewaltige Konturen. Es ist das weite Binnenland des Subkontinents, in dem die Menschen Vieh und Maniok fast nur für den Eigenbedarf wachsen ließen. Ein Land, in dem die brasilianische Armee 1897 ein Massaker an der religiösen Landlosenbewegung von Canudos im Sertão von Bahia anrichtete. „Os Sertões“, kürzlich zum wichtigsten brasilianischen Klassiker gewählt, gilt als Gründungstext dieses anderen Brasiliens. Doch dieses „Hinterland“ ist immer noch nicht ins Selbstverständnis der brasilianischen Nation integriert. Zwar wurde dieses Defizit schon im 19. Jahrhundert benannt. Bereits die Regierung des Kaisers Pedro II. ließ daher die ersten Pläne für eine neue Hauptstadt im Inland skizzieren Doch das unbeachtete, kleine Jubiläum dieses Jahres zeigt, dass dieses Integrationsprojekt gescheitert ist. Architekt Niemeyer legte den Grundriss Brasílias symbolisch in der Form eines Flugzeugs an. Doch unfreiwillig mutierte die neue Hauptstadt zum innergesellschaftlichen Raumschiff: Es entstand nur ein hochartifizielles Agglomerat. Eine schrille urbane Subkultur mit drogensüchtigen Mittelschichtjugendlichen, die schon mal einen verirrten Indio anzünden. Ein betonburgenartiger Regierungssitz, den die Parlamentarier nach den Sitzungswochen regelmäßig fluchtartig verlassen. All dies kontrastiert mit der menschenleeren Trockenvegetation der brasilianischen Hochebene. Es kontrastiert auch mit dem wachsenden Elendsgürtel der Favelas. Doch können Elendsquartiere Brasília wenigstens symbolisch mit dem Rest des Landes vereinen.

Es ist womöglich kein Schaden, dass die Modernisierung des Sertão bisher nur insulär gelang. Unverzichtbar ist dagegen, dass dieses ländliche und kleinbäuerliche Brasilien umfassend die bisherige „nationale Identität“ erweitert. Diese Forderung knüpft Fragen des kollektiven Bewusstseins wieder direkt an aktuelle Politik. Der Movimento dos Sem-Terra (MST), die Landlosenbewegung Brasiliens, ist derzeit nicht nur die aktivste soziale Bewegung Brasiliens und angesichts der Apathie der linken Parteien im Parlament die einzig wirksame Opposition. Sie hat am Ende des 20. Jahrhunderts der brasilianischen Gesellschaft vor Augen geführt, dass dieses andere Brasilien existiert. Nicht, wie noch bei Euclides da Cunha, als das barbarische Andere der Zivilisation, als das Archaische in der Moderne. Sondern als jahrhundertealte brasilianische Auch-Normalität, die viele als Lebensmodell anstreben. Es ist zwar illusionslos hart, aber eine echte Alternative zum Horror der städtischen Favelas.

Schließlich könnte man angesichts der mehreren Millionen von Einwanderern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts von einer „vierten Gründung Brasiliens“ sprechen. Sie brachte neben weiteren Portugiesen Spanier, Italiener, Japaner, Syrer, Deutsche, Österreicher und Russen ins Land. Die brasilianischen Nachkommen dieser Einwanderer sind ökonomisch oft erfolgreich. Doch jenseits von kommerzieller Fachwerkfassadenmalerei wie dem Blumenauer „Oktoberfest“ hat die offizielle Nationalerzählung die Geschichte und Kultur dieser Einwanderer bislang ignoriert.

Wer heute nach „den Brasilianern“ und ihrer Geschichte sucht, muss sein Suchgebiet erweitern. Es liegt zwischen Sklaverei und Modernisierung, zwischen Unterdrückung und Widerstand, zwischen Küste und Sertão, zwischen Angola und dem Kaukasus, zwischen Assimilation und Differenz. Und jenseits glatter Erzählungen sowie einer Handvoll Stereotype.

Hinweise:Brasília, gebaut wie ein Flugzeug, mutierte unfreiwillig zum gesellschaftlichen RaumschiffAngesichts der Apathie der Linken sind die Landlosen die einzig wirksame Opposition