Tagebuch einer Handwerksfrau

Das Bundeskanzleramt schickt den Sozialpsychiatrischen Dienst. Doch was Monika Schönemann verloren hat, ist ihr Betrieb – und fünf Kilo

von BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA

Das ist eine wahre Begebenheit. Namen und Handlungweise wurden mit Absicht nicht geändert. Mit dieser Erzählung wollen wir auf die Missstände im Handwerk aufmerksam machen. Wie es ehrbaren Menschen ergeht und welche Hilfe von Seiten unseres Staates möglich ist.

Mit diesen Worten beginnt eine fast zwei Kilogramm schwere Dokumentation über eine Privatisierungs GmbH, die nach dem Mauerfall begann, tausende von Plattenbauten im Osten mit Fördermitteln zu erwerben und zu sanieren. Zusammengestellt hat sie Monika Schönemann, Handwerksfrau aus Thüringen. Weil die Heizungsfirma ihres Mannes durch das Unternehmen in die Pleite getrieben wurde, ist der Packen Papier – eine Mischung aus brisanten Firmeninterna und persönlichen Tagebuchnotizen – das Einzige, was nach acht Jahren Selbstständigkeit übrig geblieben ist. Am 5. Juni hat sie die Papiere, Schlafsack, Unterwäsche, T-Shirts, Jeans und Kosmetikbeutel in eine Reisetasche gepackt und ist zusammen mit elf Handwerksfrauen und -männern nach Berlin gefahren.

Obwohl Monika Schönemann von 1.400 Mark Arbeitslosengeld lebt, hat sie eine noble Adresse in der Hauptstadt: direkt am Brandenburger Tor. Die Gruppe campiert auf Matratzen, in einer City-Toilette erledigen sie für 50 Pfennig die nötigsten hygienischen Bedürfnisse. Nur um die Versorgung müssen sie sich keine Sorgen machen: Seit 18 Tagen nehmen drei der Frauen keine Nahrung zu sich: Monika Schönemann (57), Margarete Lienke (45) und Monika Wieske (58), die an Krebs erkrankt ist. Während ihre Ehemänner ihr Schicksal in sich reinfressen und mehrmals am Tag besorgt in Berlin anrufen, geben die Frauen keine Ruhe. Der Grund für ihre gewollte Appetitlosigkeit ist auf Dutzenden von Transparenten zu lesen: „Das Handwerk stirbt, die Politik schläft.“ Oder: „Warum, Herr Bundeskanzler, schicken Sie Hilfesuchende in die Psychiatrie?“

Sozialismus – Wende – Hoffnung. Jetzt kam die Freiheit. Wir wollen es noch einmal packen. Die Arbeitsstelle meines Mannes als Bereichsleiter Technik im Interhotel ist noch nicht in Gefahr, aber er wollte endlich noch etwas Eigenes auf die Beine stellen. So wagten wir den Weg in die Selbstständigkeit.

Was wie der traurige Alltag im Handwerk Ost erscheint, entpuppt sich als ein Betrugsfall mit Krimiqualität. Die Unterlagen von Monika Schönemann legen nahe, dass Stabitherm Untreue, Konkursverschleppung und Steuerhinterziehung begangen hat – und damit die Schönemanns und Dutzende weitere Handwerksfamilien in den Ruin getrieben hat. Stabitherm ist eine Zwischenerwerbs GmbH, die mit Landesfördermitteln genossenschaftliche und städtische Wohnungen in den neuen Bundesländern erwirbt und saniert.

Der Anfang vom Ende der Schönemanns ist ein Angebot der Stabitherm-Niederlassung in Erfurt 1996. Fünfmal schickt die Firma Angebote an die Heizungsfirma. Fünfmal wandern die Unterlagen in den Papierkorb – sie kennen die Firma nicht. Beim sechsten Mal schließlich, bei einem Angebot für 24 Wohneinheiten, greifen sie zu. Weitere kleinere Angebote folgen, zwei Jahre lang arbeiten sie mit ihren 14 Angestellten für Stabitherm. Fristgerecht übergeben sie die Wohnungen, fristgerecht bekommen sie ihr Geld. Als ihnen dann der Heizungseinbau in sieben Wohnblocks mit 190 Wohnungen angeboten wird, stellen sie neue Leute ein und leasen zusätzliche Fahrzeuge. Auftragsvolumen: eine Million Mark. Im August 1996 „wurde die Lage dann undurchsichtig“, erzählt Monika Schönemann. Die Zahlungen ihrer termingerecht und ordnungsgemäß ausgeführten Leistungen bleiben aus, die vier Geschäftsführer aus Schleswig-Holstein sind unerreichbar, der Niederlassungsleiter spricht von Engpässen.

Stabitherm bietet Zahlung in Raten an, überweist aber nicht. Schließlich schlägt die Firma einen Vergleich vor: Die Handwerker sollen auf 48,1 Prozent ihrer Forderungen verzichten. Diese lehnen ab. Im Dezember 1996 überzieht Monika Schönemann ihren Dispositionskredit um 10.000 Mark, um Klage einreichen zu können. „Es war uns klar, dass das betrügerischer Konkurs ist.“ Ende des Jahres scheidet einer der Geschäftsführer aus und wird am gleichen Tag Geschäftsführer der Firma „Konzept Zwischenerwerb GmbH und Co KG“, die nach eigenen Angaben zu den namhaften Zwischenerwerbern in den neuen Bundesländern gehört. Beim Abschluss diverser Großprojekte kann sich die Konzept GmbH und allen voran der ausgeschiedene Geschäftsführer von Stabitherm der Anerkennung von Lokal- und auch Bundespolitikern gewiss sein. So lobt der Bundestagsvizepräsident der FDP, Hermann Otto Solms, den „vorbildlichen Weg“ der Sanierung.

Weihnachten steht vor der Tür. Löhne können wir nicht zahlen. Wir reden mit den Monteuren. Die Familien haben auch keine Reichtümer. So fällt für alle das Fest aus. In Gedanken fahre ich mit meinem Auto und hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum.

Monika Schönemann erstattet Anfang 1997 Strafanzeige gegen Stabitherm wegen betrügerischen Konkurses und übergibt der Staatsanwaltschaft eine Kopie der ihr zugespielten Unterlagen. Der ausgeschiedene Geschäftsführer drängt die Handwerksfirmen weiter, den außergerichtlichen Vergleich anzunehmen – was diese nicht tun.

Während Berlinerinnen die Wäsche der Hungerstreikenden waschen, Wachschützer nachts das Akku vom Handy aufladen, Touristen die Szenerie als originelles Hauptstadt-Fotomotiv mitnehmen – hüllen sich die Politiker in Schweigen, die die Frauen zuvor angeschrieben haben. Von Ex-Finanzminister Theo Waigel erhalten sie den Ratschlag, es mit Förderkrediten zu versuchen – doch dafür braucht man Sicherheiten. Aus dem Bundeskanzleramt erreicht sie ein Schreiben, in denen den Frauen im Namen von Gerhard Schröder für die Mitwirkung an der Aufklärung eines Betrugsfalles gedankt wird. Die PDS hilft auf ihre Weise: Sie übernimmt die Kosten für Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes, die täglich Vitamin-Drinks vorbeibringen und den Gesundheitszustand der Frauen kontrollieren. Die Abgeordnete Christa Luft schreibt an Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD). Eine Antwort steht noch aus.

Noch nie in meinem Leben hatten wir Schulden, es wird immer erdrückender. Da müssen wir durch, erklärt mein Mann und versucht, Trost zu spenden. Wir halten zusammen. Ich kann kaum noch schlafen.

Weil ein halbes Jahr nach der Strafanzeige noch immer nichts passiert ist, wenden sich die Frauen 1997 an die MDR-Ratgebersendung „Ein Fall für Escher“, eine Institution in den neuen Bundesländern. Jeden Donnerstag schalten 300.000 Zuschauer ein. Einen Tag nach Ausstrahlung des Beitrags erhält Monika Schönemann zwei Anrufe. Der erste ist anonym, drohend. Der zweite ist ebenfalls anonym, aber nicht furchteinflößend. „Ich will mein Gewissen erleichtern“, vernimmt Monika Schönemann die Stimme eines Mannes. Einige Tage später hat sie in ihrem Briefkasten brisante Unterlagen über Stabitherm, die Aufschluss geben über das verzweigte Firmengeflecht mit den stets gleichen Namen, geschönte Bilanzen und den verschleppten Konkurs. Wenige Monate später beantragt Stabitherm die Eröffnung des Konkursverfahrens.

Die Staatsanwaltschaft hüllt sich noch immer in Schweigen. Ich schaffe es bald nicht mehr. Mittlerweile haben wir alle Altersversorgungen gekündigt, Grundschuld aufgenommen und noch Löhne erledigt. Wir entlassen unsere Monteure.

Im Frühjahr 1998 stellt auch Handwerksfrau Margarete Lienke Strafanzeige. Unterdessen bietet der ehemalige Stabitherm- und jetzige Konzept-Geschäfsführer Monika Schönemann die Zahlung von 160.000 Mark an. Seine Bedingungen: keine Fernsehauftritte mehr, Rückgabe aller Unterlagen, Preisgabe des Informanten, Rücknahme der Strafanzeige. Der Deal kommt nicht zustande. Die per Gerichtsbeschluss festgestellten berechtigten Forderungen der Heizungsfirma belaufen sich auf 306.187,14 Mark.

Im Sommer 1999, die Frauen haben längst Dienstaufsichtsbeschwerde gestellt, reagiert die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder). Im Zuge der Ermittlungen gegen die vier Geschäftsführer von Stabitherm wegen Untreue, Konkursverschleppung und Steuerhinterziehung beschlagnahmt sie bei Familie Schönemann und Lienke die Unterlagen – die sie bereits vor zweieinhalb Jahren von Monika Schönemann erhalten hat. Zudem behält sie Vermögenswerte der Geschäftsführer in mehrstelliger Millionenhöhe ein. Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft: „Alles deutet auf den Nachweis von Konkursverschleppung hin.“ Bis Ende des Jahres sei mit Abschluss der Ermittlungen zu rechnen.

Sequestor im Stabitherm-Konkursverfahren ist ein Anwalt der renommierten Berliner Kanzlei Knauthe, Paul und Schmitt. Zu der gehört auch Herta Däubler-Gmelin. Diese besuchen die Handwerksfrauen im Mai 1999. Vor den Frauen spricht die Ministerin von einem „wirtschaftlichen Verbrechen“. In einem späteren MDR-Beitrag weiß sie nichts mehr davon.

Im Mai schaltet sich das Bundeskanzleramt ein. Doch statt der erwarteten Hilfe schickt man Monika Schönemann den Sozialpsychiatrischen Dienst. Begründung: Verdacht auf Selbstmordgefahr. Der Psychologe legt die Anfrage nach einem Telefonat mit der Handwerksfrau zu den Akten. Die Frauen beschließen zu hungern.