Die hohe Kunst der... ...Geheimhaltung

■ Die Welt interessiert sich derzeit für junge Autoren. Schön für den Kurzzeit-Worpsweder Marcus Braun, der heute aus seinem Roman „Delhi“ liest

Eine Frau begeht einen Mord, vielleicht. Ein Mann sitzt im Flugzeug, wahrscheinlich. Knapp 170 Seiten später sind wir um viele Informationen reicher – und doch kaum schlauer. Sicher ist, irgendwann saß der 1971 geborene Autor Marcus Braun irgendwo, an der Mosel, woher er stammt, oder in Berlin, wo er wohnt, an seinem Schreibtisch. Und rechnete einen Roman aus. Der heißt „Delhi“, ist gerastert wie ein Schachbrett, scheint durchorganisiert bis zum letzten Punkt Punkt Komma Strich. Und ist doch angenehm zu lesen. Wie so was geht, fragten wir Marcus Braun, der gerade als Stipendiat in Worpswede lebt.

taz: Und? Wie ist Worpswede?

Braun: Schön! Ich bin aber wenig im Ort gewesen, meistens hier. Zum Arbeiten.

Nach der Lektüre von „Delhi“ drängen sich zwei Fragen auf: Es ist irgendwie ein Reiseroman. Ist es eine Auseinandersetzung mit dem Genre?

Es hat sich ergeben, weil ich in Indien war. Danach habe ich mir solche Sachen angeschaut, Literatur, die mit Exotismus spielt. Bruce Chatwin zum Beispiel.

Frage zwei hast du eigentlich schon beantwortet. Es ist nicht zufällig Indien. Trotzdem, könnte der Roman auch in Südamerika spielen oder in Australien?

Dann wär's ein ganz anderer Roman. Dass er so zusammengesetzt ist, hat schon viel mit Indien zu tun.

Goester, dein Protagonist, folgt einer eigenartigen Suchbewegung...

...die so natürlich kaum mit einem Land wie Guatemala in Verbindung gebracht werden könnte.

Du arbeitest neben Eindrücken auch mit Klischees. Geht es um deren Analyse und Kritik?

Ich habe einen Blick von außen. Der aber auch die Figuren betrifft. Der läuft natürlich Gefahr, an der Oberfläche hängen zu bleiben. Andererseits gibt es Dinge, die mit dem ersten Blick besser wahrgenommen werden können, während der zweite sie verklären würde. Ich denke nicht, dass es an der Oberfläche nicht authentisch sein kann.

Muss ja auch nicht sein.

Sicher, doch könnte man denken, dass jemand, der ein Buch über Indien schreibt, sich unheimlich gut auskennen müsste. Für diese Art von Roman ist das aber nicht nötig.

Nie weiß man, was Goester wirklich passiert und was er nur zusammenfantasiert...

...das ist eine psychologische Interpretation. Man könnte aber auch sagen, dass diese Verwirrungen viel mit Indien zu tun haben. Die Figur hat ja zunächst gar keine Geschichte. Man weiß nur, dass er Architekt ist, gerade diplomiert. Und man hat den Eindruck, dass er nicht besonders glücklich mit allem umgeht. Der Leser wird – wie die Figur – ins kalte Wasser geworfen. Es passiert sehr viel mit der Figur. Es findet aber keine psychologische Entwicklung statt.

Der Text ist in viele kurze Kapitel untergliedert. Eine Frage der Erzählstruktur?

Auch. Aber das hat wiederum mit Indien zu tun. Die extremen Gegensätze. Die radikale Erfahrung von Fremde. Man versteht nichts, weiß nichts. Interessant ist, dass einige meinten, das Buch habe mit Indien gar nichts zu tun, während andere, die vielleicht selber schon dort waren, gesagt haben, die Beschreibung von Orten und Atmosphäre wäre schon treffend.

Sind alle deine Texte so gebaut?

Ja und nein. In „Nadjana“ ist die Zeitschiene überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Hier kann man ja noch merken, dass alles innerhalb einer Woche passiert. Auch ist „Delhi“ deutlicher verortet .

„Goester, mit 'oe', mein Vorname ist zu lächerlich“, stellt sich der Protagonist vor, der in eine Verschwörung hineintapert. Ist er das Negativ einer James-Bond-Figur?

Er ist eine Art Anti-Bond. Im Grunde ist es sogar ein Politthriller. Da gibt es schon konkrete Vorbilder. Erstaunlicherweise ist das aber so verschlüsselt, dass niemand sich großartig dafür interessiert.

Die obligatorische Filmfrage...

...es ist einfach so, dass man damit lebt. Ich lese beispielsweise keine Thriller, schaue mir aber manche Filme gern an. Manchmal spielt das unbewusst ins eigene Erzählen hinein. Es gibt Schnitte, es gibt Cliffhanger.

Also haben wir es mit der starken Erzählposition eines Regisseurs zu tun?

Das stimmt. Und man darf dem Erzähler nicht wirklich trauen. Er entscheidet, was der Leser erfährt und was nicht.

Weiß denn der Autor viel mehr?

Es gibt keine Geschichte dahinter, keine letztgültige Version. Oder, wenn es sie gibt, existiert sie nicht außerhalb des Textes in meinem Kopf, sondern im Buch.

Fragen: Tim Schomacker

Villa Ichon, heute, 20h