Bis 2029 ist wohl alles vorbei

Abschalten, umlegen, endlagern: Die schwierige Aufgabe, durchschnittliche Betriebslaufzeiten zu errechnen und Versprechen zu halten

von HANNES KOCH,
SVEN-MICHAEL VEIT
und JÜRGEN VOGES

Felix Matthes hat gut zu tun. Im Öko-Institut Berlin rechnet er aus, was der Atomkonsens zwischen rot-grüner Regierung und den vier großen Energiekonzernen bedeutet. Denn das, was in der Vereinbarung von Mittwochnacht steht, ist interpretationsbedürftig. Werden die Atomkraftwerke tatsächlich nach durchschnittlich 32 Jahren Betriebszeit abgeschaltet, wie es im Text heißt? Oder können die Bürgerinitiativen und Umweltverbände mit gutem Grund behaupten, dass nicht nur die ursprünglich angestrebte Grenze von 30 Jahren überschritten, sondern die Anlagen noch länger laufen dürfen?

2.516 Milliarden Kilowattstunden Strom sollen die 19 produzierenden Atommeiler noch liefern dürfen. Das entspricht einer durchschnittlichen Restlaufzeit von 15,6 Jahren. „Mit den 32 Jahren Gesamtlaufzeit kommt das ungefähr hin“, schätzt Experte Matthes. Genau wird er es jedoch erst in den kommenden Tagen wissen, wenn seine aufwendige Rechnung fertig ist.

Die Regierung hat sich in den nächtlichen Verhandlungen durchaus flexibel gezeigt – zugunsten der Atomindustrie. Auf die durchschnittliche Strommenge, die die Kraftwerke in den vergangenen fünf Jahren produziert haben, werden für die Zukunft 5,5 Prozent jährlich im Vergleich zur jetzigen Menge aufgeschlagen. Die Regierung hatte ursprünglich 2,2 Prozent angesetzt. Umweltstaatssekretär Rainer Baake hält den Wert trotzdem für „fair“. Begründung: Den Druck der Liberalisierung im Nacken, würden die Konzerne die Effektivität ihrer Anlagen steigern. Man könne also nicht die niedrigere Produktion der Vergangenheit zum Maßstab nehmen. In Jahren ausgedrückt, heißt das aber möglicherweise, dass die Laufzeit insgesamt länger wird als 32 Jahre.

Zweifel an dieser Zahl ist auch deshalb angebracht, weil RWE für sein stillstehendes AKW Mülheim-Kärlich nach Einschätzung von Felix Matthes eine Strommenge zugesprochen bekommt, die nicht nur zehn, sondern knapp elf Laufzeitjahren entspricht (107 Milliarden Kilowattstunden). RWE darf diese Produktionsmenge auf seine übrigen AKW übertragen. Die Folge: Das AKW Emsland und die Blöcke A und B in Gundremmingen können länger liefern, was die Gesamtlaufzeit der in Betrieb befindlichen Kraftwerke erhöhen kann.

Die verbleibende Laufzeit für jedes AKW wird so berechnet: Die einzelne Anlage bekommt eine Restlaufzeit (32 Jahre minus bisheriger Betriebszeit). Außerdem wird gemessen an der bisherigen Jahresproduktion eine Reststrom-menge festgelegt und um 5,5 Prozent erhöht. Aus der Multiplikation von Restjahren und Reststrom ergibt sich die noch erlaubte Produktion pro Anlage.

Wann das erste Kraftwerk abgeschaltet wird, bleibt unklar. Obrigheim als ältester Reaktor (Start 1968) bekommt eine Strommenge zugesichert, die den Betrieb für weitere drei Jahre ermöglicht.

Rot-Grün geht trotzdem davon aus, dass die Anlage noch vor der Bundestagswahl 2002 vom Netz geht. Neckarwestheim 2 verfügt über die höchste Reststrom-menge und kann so bis mindestens 2023 produzieren. Wenn Produktionskontingente von anderen AKW auf Neckarwestheim angerechnet werden, dauert der Betrieb vielleicht bis 2026 oder noch länger – das können die Betreiber entscheiden. Vor diesem Hintergrund sagt Stefan Kohler, Chef der Niedersächsischen Energie-Agentur, dass wohl spätestens „2029 Schluss ist“ mit der gesamten Atomstromherstellung.

Am Bau des Endlagers in Gorleben hält die rot-grüne Bundesregierung fest. Das Moratorium, mit dem nun die weitere Erkundung des Salzstocks für drei bis zehn Jahre unterbrochen werden soll, „bedeutet keine Aufgabe von Gorleben als Standort für ein Endlager“, heißt es ausdrücklich. Aufgegeben haben SPD wie Grüne mit dieser Erklärung alle Parteitagsbeschlüsse, in denen der Salzstock Gorleben als geologisch ungeeignet bezeichnet wurde. Dass der Salzstock in direkter Verbindung mit dem Grundwasser steht und dass die über ihm liegenden Gesteinsschichten durchlässig sind und keinesfalls eine Barriere nach oben bilden, wird mit keinem Wort erwähnt. Von der Untersuchung anderer Endlagerstandorte ist ebenfalls nicht die Rede. Erwähnt werden lediglich Fragestellungen, „die Zweifel begründen“ – wie die Gefahr von Gasbildung im Endlager oder die Geeignetheit von Salz überhaupt. Diese Fragen wären allerdings in dem noch ausstehenden Genehmigunsgverfahren für das Endlager ohnehin zu behandeln. Trotz der Einigung ist der gesamte Konsens noch nicht völlig unter Dach und Fach. „Wir behalten uns eine eigenständige Entscheidung vor“, erklärte gestern der Chef der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW), Manfred Timm. Das Unternehmen war nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt. Die HEW stellen Schadensersatzklagen in Aussicht, falls sie Gewinneinbußen hinnehmen müssten. Vorbild dafür ist die mehr als fünf Milliarden Mark hohe Entschädigungssumme, die der schwedische Staat für die vorzeitige Stilllegung des AKWs Bärsebäck an Vattenfall, den größten Stromkonzern des Landes, zahlte.

Und der, darauf weist Timm gerne hin, ist ja seit Ende vorigen Jahres Hauptanteilseigner an den HEW.