Fabelwesen auf PS-Raketen

Wahre Lokale (22): Unter falschen Fresken in der richtigen Marburger „Bremsspur“

Der Intellektuelle hat es schwer. Nie darf er sich gehen lassen. Noch schwerer hat es der Intellektuelle, der in Marburg zu Hause ist, der Universitätsstadt mit der höchsten sozialen Kontrolle pro Quadratzentimeter. Das Leben ist hier ein ewiges Proseminar, aus dem es kein Entkommen gibt. Doch zuweilen packt selbst den Intellektuellen in Marburg die Versuchung, „den geistigen Anspruch an sich selbst zu lockern, unter das Niveau zu gehen, in Sache und Ausdruck allen möglichen Gewohnheiten zu folgen, die man als wach Erkennender verworfen hat“ (Adorno). Dann legt er sein Buch beiseite, kratzt sein letztes Geld zusammen und wandert stadtauswärts. „Wenn dich die bösen Buben locken“, singt er vergnügt vor sich hin und biegt irgendwann in die Straße ein, die zum Stadtteil mit dem hübschen Namen Wehrda führt.

Hier liegt linker Hand die „Bremsspur“, ein Lokal, in das sich nur selten einer der drei Millionen Marburger Studenten verirrt, obwohl kein „Akademiker bitte draußen bleiben“-Schild installiert ist. Die meisten trinken lieber in der so genannten Oberstadt, in den zahlreichen Burschenschaftshäusern oder, was auf das gleiche hinausläuft, in selbstverwalteten, d. h. schlecht funktionierenden gastronomischen Betrieben, deren stets mies gelaunte Mitarbeiter ihre Unfähigkeit, guten Kaffee zu kochen oder leckeres Bier zu zapfen, gern mit seitenlangen, angeblich politischen Erklärungen auf den Speisekarten zu rechtfertigen versuchen.

In der „Bremsspur“ hingegen weiß man, dass gekonntes Bierausschenken kein Verbrechen ist. Die Weizengläser kommen rasch, der unbeobachtete Intellektuelle trinkt mutig gegen sein Über-Ich an und verliert bald seine Hemmung.

An der Außenwand des Hauses befindet sich etwas, was Archäologen in ferner Zukunft vielleicht einmal als falsche Fresken der Biker-Sekte bezeichnen werden. Zu sehen ist ein stattliches Motorrad, auf dessen Gepäckträger ein volles, gelb leuchtendes Bierglas steht. Daneben trabt ein weißes Fabelwesen durch blaue Wolken, und die Schriftzüge „Piercing“, „Tattoo“ sowie „Colours“ weisen auf ein Fachgeschäft für Körperdurchbohrungen im ersten Stock des Gebäudes hin.

Über dem Eingang ist ein halbes Motorrad an der Wand befestigt. Rote Punkte symbolisieren Backsteine und sollen den Eindruck erwecken, die Maschine breche, mindestens mit Schallgeschwindigkeit, aus dem Inneren des Lokals durch die Mauer. Drinnen gibt es dunkel gebeizte Balken und allerlei Fotografien von äußerst spärlich bekleideten blonden Motorradfahrerinnen. Männer mit seitlich geschnürten Lederhosen, Holzfällerhemden, Heavy-Metal-T-Shirts und Vokuhila-Mähne betreten in Begleitung von gepiercten, mit zahlreichen Armringen behängten Bikerinnen das Lokal. Oberhalb der „Bremsspur“ liegt etwas versteckt das Clubhaus der örtlichen Motorradfahrer-Gang. Dort wird zuweilen getrunken, bis die Lederhose spannt, dann haut man sich ordentlich ins Schnauzbartgesicht, steigt auf die PS-Rakete und brettert auf dem Hinterrad den Wehrdaer Weg hinauf, dass es eine wahre Freude ist.

Eine Attraktion der „Bremsspur“ ist außer ihrer absoluten Nicht-Hipness der Tischfußballapparat, auch „Kicker“ genannt. Als ich zum letzten Mal in der „Bremsspur“ Gewohnheiten folgte, die ich als wach Erkennender verworfen hatte, wurde hier gerade das große Finale um den Wahrheit-Pokal im Tischfußball ausgetragen. Angetreten waren zwei intellektuelle Heimtrainer gegen eine Berliner Ballkünstlerin und meine Wenigkeit. Während aus den Kneipenboxen „sad but true“ von Metallica in einer Lautstärke drang, die das Hefeweizen zum Kräuseln brachte, dribbelte sich die Gastdame extrem angriffslustig durch die feindlichen Abwehrreihen, um vor dem gegnerischen Tor immer wieder etwas recht Erfolgreiches zu tun, das sie in stark alkoholisierter Aussprache als „voll durchziehen“ bezeichnete. Als Torwart konnte ich mir getrost Zigaretten drehen, während sie dem weitgehend geschwächten Gegner eine Zu-Null-Niederlage nach der anderen verpasste, was uns Myriaden von Freigetränken einbrachte. Es gibt eben doch ein richtiges Spiel im falschen. Zumindest in der „Bremsspur“. Manchmal.

MATTHIAS THIEME

Hinweis:Über dem Eingang ist ein halbes Motorrad befestigt, das den Eindruck erwecken soll, als breche die Maschine mit Schallgeschwindigkeit durch die Mauer