Kreative Destruktion!

Die OECD hat erneut ermittelt: Deutschland wird in der Bildung international abgehängt. Es fehlt an Geld, Motivation, Konzepten und an Neugier. Nötig ist ein Wechsel vom Belehren zum Lernen

von REINHARD KAHL

Diese Woche wird eine der Bildungspolitik. Die Wähler in Nordrhein-Westfalen haben damit begonnen, als sie das Thema Bildung nach der Wirtschaft auf den zweiten Platz ihrer Agenda setzten. Heute trifft sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Weimar zu ihrem Bildungstag. Das könnte das „Godesberg“ der GEW werden, denn sie macht nicht die Lehrer und das Lehren zum Thema, sondern das Lernen. Und am Dienstag kam aus Paris eine kalte Dusche für den Standort Deutschland. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit, OECD, veröffentlichte die Bildungsbilanz für ihre 29 Mitgliedsstaaten und 19 andere Länder. Da sieht Deutschland auch im Vergleich mit gering industrialisierten Ländern nur mittelprächtig aus und wird von der Vorhut des digitalen Kapitalismus abgehängt.

International ist die Quote der Studienanfänger auf 40 Prozent gestiegen. Aber hier zu Lande beginnen gerade einmal 28 Prozent eines Jahrgangs ein Studium und nur 16 Prozent schließen es erfolgreich ab. Dafür studieren die Deutschen besonders lange, mehr als sechs Jahre. International ist man bereits nach viereinhalb Jahren im Beruf.

Wenn der alte Bildungsweltmeister Germany im internationalen Vergleich insgesamt noch passabel dasteht – worauf die Regierung hinweist – dann nur, weil hier die 55- bis 64-Jährigen doppelt so oft höhere Schulabschlüsse haben wie im OECD-Schnitt. Die deutschen 25- bis 34-Jährigen erreichen aber nur noch das obere Mittelfeld. Länder wie die USA, Norwegen oder Großbritannien führen inzwischen mehr als doppelt so viele junge Leute durch die Hochschulen. In den Natur-, Computer- und Ingenieurwissenschaften kommen auf 100.000 deutsche Beschäftigte 1.040 Hochschulabsolventen. In Korea sind es mehr als 5.000, auch Finnland, Frankreich oder Irland bringen es auf ein Vielfaches.

Die Zahlen beweisen, dass die Green-Card-Debatte, wie unser Kanzler sagt, „Sinn macht“. Seine Bildungspolitik, so es sie gibt, allerdings macht den Unsinn der Vorgänger weiter. Hier etwas Geld und da ein paar betuliche Worte. Die OECD beobachtet international viel Bewegung vor allem im „tertiären Bereich“, zu dem neben den Hochschulen auch Meisterausbildungen oder Wirtschaftsakademien gehören. In anderen Ländern werden hier neue Bildungsgänge gegründet, die kürzer sind und sich zu einem Patchwork individueller Bildungsbiografien zusammenbauen lassen. So entstehen Dynamik, Vielfalt und Bewegung in der global werdenden Bildungslandschaft. Von Australien bis Norwegen, von Korea bis in die Türkei bereitet sich die Welt mit Bildungspower auf die Zukunft vor. Globalisierung heißt die Antwort im großen Wettbewerb.

Die Zahlen rufen nach einer Generalinventur in Deutschland. Nicht nur die leicht messbaren Hardfacts müssen beunruhigen. Auch mit den Leistungen und vor allem mit der Stimmung in Schulen und Hochschulen steht es nicht gut. Wie viel Energie verschlingt die verdrießliche Beschäftigung mit sich selbst? Wie wenig lustvoll sind Lehrkörper, die sich dauernd entschuldigen, sie seien zu alt. Ihr Gähnen ist so ansteckend, wie es die Wachheit, Neugier und Aufmerksamkeit jung gebliebener und wirklich erwachsen gewordener Erwachsener sein müssten. Der Satz des alten Augustinus ist immer noch ganz frisch: „Nur wer selbst brennt, kann andere entzünden!“

Wenn von unseren Schulen und Hochschulen eher Müdigkeit ausgeht, dann liegt das Angestrengte des Personals gewiss auch daran, dass unsere Gesellschaft zu wenig Geld investiert. Nach den OECD-Zahlen ist Deutschland Schlusslicht, was seinen Anteil am Bruttosozialprodukt für Schulen betrifft: Nur 6,2 Prozent werden dafür ausgegeben. Die Polen stemmen 13,5 Prozent, Neuseeland 13, die Schweiz 11 und die USA 10,2 Prozent. Aber hier zu Lande wird nicht nur am Geld gespart. Auch in den Währungen von Aufmerksamkeit, Anerkennung und Freude am Geben und Nehmen ist man geizig. Bildung ist immer ein Spiegel der Gesellschaft. Sie könnte die Bühne eines Selbstgespräches darüber werden, wer sie ist und was sie werden will.

Heute beginnt die GEW, die immer noch überwiegend ein Lehrerinnen- und Lehrerverein ist, ein viel versprechendes Selbstexperiment mit ihrem Bildungstag „Lernwege“ in Weimar. Ein Teil der GEW hat begriffen, dass Lernen etwas anderes ist als Stoff zu vermitteln bzw. vermittelt zu bekommen, also belehrt zu werden. Wenn auch manche notorisch zu spät Kommenden heute die „Wissensgesellschaft“ erfinden, ist es tatsächlich genau umgekehrt. Wissen wird mehr denn je von Unsicherheit und Nichtwissen durchlöchert. Das Wachstum des Zweifels hat eine steilere Exponentialkurve als das des Wissens. Nein, die uralte abendländische Religion, dass Ideen, Wissen oder Lehrpläne schon vor dem Menschen da seien, wird am Ende ihrer Erfolgsgeschichte verdampft. Lernende und Forschende sind zwar immer noch auf Traditionen und Archive ihrer Vorgänger angewiesen. Aber sie surfen in Meeren des Nichtswissens von Insel zu Insel. Dieses Surfen kann man von den Internetkids lernen, zumal Lehrer. Die aber verhalten sich – gewiss nicht alle, aber viel zu viele – wie die letzten Priester der alten Religion des Wissens, an der alle anderen den Glauben verlieren. Die neue Ökonomie gibt ihr ein Letztes.

Sie wird, wie der kluge Ulrich Klotz vom Vorstand der IG Metall schreibt, eine Ökonomie der „Netzwerke und der Aufmerksamkeit“. Ihr Aufstieg beschleunigt die kreative Destruktion der alten Wissens- und Kommandoordnung. Das Ergebnis könnten neue Tugenden des Lernens sein. Zum Beispiel Fehler machen zu dürfen, ja sie machen zu müssen, wenn Neues entstehen soll. Das wiederum erfordert eine Kultur gegenseitiger Anerkennung – der freundlichen Neugier auf die Falte des Anderen. Denn woraus sonst, wenn nicht aus der Falte, die ein Individuum von allen anderen unterscheidet, lässt sich das Neue entfalten, mit dem ein jeder auf die Welt kommt? Das wäre ein Gegenprogramm zum aufwendigen Betrieb der Lernvollzugsanstalten. Dass die Art des Lernens ein noch intimerer Unterschied der Menschen ist als ihre Sexualität, darauf weisen Nestoren des Lernens wie Hartmut von Hentig oder Heinz von Foerster hin. Die Entdeckung der Individualtiät, und damit auch der Kooperation und des Respekts, also die Tugenden der Innovation – das ist heute das Thema hinter dem Thema „Bildung“. Irgendwie spüren es doch alle, und deshalb wirkt eine Bildungspolitik, die nur Input, Output und Put Put buchstabieren kann, so hoffnungslos lernbehindert.

Also: Die Bildung ist tot! Es lebe die Bildung!! Auch für Lehrer gilt dieses Stirb und Werde. Und man kann es kaum glauben, diese Fragen will die GEW von heute an diskutieren. „Müssten Lehrer nicht auch Erfahrungen in anderen Bereichen des Lebens, vor allem der Wirtschaft machen? Können nicht auch andere Personen anregungsreiche Lehrer sein? Kann man überhaupt ein Leben lang hauptberuflich Lehrer sein?“ So steht es in der neunten von zehn Thesen und Fragen, die sich die GEW stellt. Bravo!

Hinweise:Lernende müssen in Meeren des Nichtswissens von Insel zu Insel surfenEin Teil der GEW hat begriffen, dass Lernen nicht heißt, belehrt zu werden