Powertower of London

Brückenschlag zwischen den Jahrtausenden: Tate Modern, der Erweiterungsbau zur Londoner Tate Gallery, ist mehr als eine Kraftzentrale der zeitgenössischen Kunst. Mit dem Umbau durch das Architektenduo Herzog & de Meuron wurde das gesamte Stadtviertel aufgewertet

von IRA MAZZONI

Bankside Powerstation, dieser Backsteinkoloss am Südufer der Themse, produziert zwar keinen Strom mehr, pumpt aber neue Energie in einen der ältesten und deprimierendsten Londoner Stadtteile. Den Architekten der Umnutzung, dem Schweizer Duo Jacques Herzog & Pierre de Meuron, ist es gelungen, nicht nur ein kraftvoll strahlendes Kunstzentrum zu schaffen, sondern dem Southwark-Viertel neue Perspektiven zu eröffnen. Tate Modern, der Erweiterungsbau zur unweit des House of Parliaments gelegenen Tate Gallery für klassische britische Kunst, ist mehr als ein Museum, es ist eine soziale Plastik. Der erste Tate-Repräsentant vor Ort war ein Sozialarbeiter, der mit den Anwohnern alle Punkte des Projekts offen diskutierte. Es gab und gibt Aus- und Weiterbildungsprogramme. Das Museum selbst beschäftigt bisher 24 Assistenten aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Insgesamt soll die Revitalisierung 2.400 neue Jobs bringen. Der Wegzug ist längst gestoppt.

Wer durchs Viertel streift, sieht nicht nur die alteingesessenen Papierhändler und Werkstätten, sondern kleine Galerien, Cafés, Restaurants. Das hat Chic, doch auf Grund des hohen Anteils von Sozialwohnungen und neuen, preisgekrönten Genossenschaftsbauten werden die Altbürger nicht verdrängt. Das Viertel lebt von den Gegensätzen auf engstem Raum: Mittelalterliche Gassen, Industrie- und Lagerhallen, massiven Eisenbahndämmen, neue Lofts, alte Reihenhäuser und Wohnhöfe, einzelne Bürokomplexe liegen direkt nebeneinander. Tate Modern ist nur der Höhepunkt in einer Reihe von städtebaulichen Maßnahmen. Die Rekonstruktion des Globe Theater brachte den Durchbruch. Bankside hatte seine erste kulturelle Adresse. Die Rettung des OXO-Tower setzte einen weiteren Akzent.

Die Belebung der Garagen auf Gabrielswharf brachte Flair, das neue Wegesystem sorgte für Orientierung. Das Ganze wird als „Millennium mile“ umworben. Am Südufer kann man inzwischen flanieren, dinieren, ein kühles Bier auf dem Kai genießen, die Beine vom Pier baumeln lassen oder während der Mittagspause im englisch kurz rasierten Grün von Bernie Spain Gardens liegen. Mit der neuen Fußgängerbrücke, die ab Mitte Juni einen direkten Bogen von der St.-Pauls-Kathedrale zum Kunst-Kraftwerk schlägt, wird Southwark im Herzen der Metropole liegen.

Herzog & de Meuron ist ein Wunder geglückt. Am Anfang war die Skepsis groß. Während andere Städte zumeist amerikanische Stararchitekten damit beauftragten, spektakuläre Solitäre für ihre Sammlungen moderner Kunst zu bauen, traf Tate die Entscheidung, in einen gotisch anmutenden Industriebau zu schlüpfen, der zwar als selbstbewusstes Gegenüber zu St. Pauls auftrat, aber bereits zum Zeitpunkt seiner Erbauung 1947–63 altmodisch wirkte. Wie sollte das Ölkraftwerk, das bereits 1981 wieder vom Netz genommen wurde, den Aufbruch in eine neue Zeit symbolisieren? Nun scheint Tate ganz oben auf der Zeitgeistwelle zu schwimmen: Nachhaltige Stadtentwicklung heißt das Zauberwort. Qualitätvolle Umwandlung statt Abbruch und radikaler Neubeginn. Auf der Habenseite: eine bekannte Lokalität, der die Architekten „nur“ einen leuchtenden Glasbalken aufsetzen mussten, um den Neubeginn zu markieren. Eine grandiose Turbinenhalle, die mit ihren 155 Metern Länge, 23 Metern Breite und 35 Metern Höhe alles überbietet, was in letzter Zeit an Passagen gebaut wurde. Diese Dimensionen lassen einem schlicht den Atem stocken. Herzog & de Meuron führen die Besucher über eine breite Rampe hinunter auf das Fundament der ausgemusterten Turbinen. Von der ehemaligen Arbeitsebene ließen sie eine breite Brücke stehen, die als Transportweg genauso funktioniert wie als Nord-Süd-Passage und Aussichtsbrücke. Denn es war den Architekten wichtig, die ehemals nahezu unzugänglich abgeriegelte Kraftzentrale nach allen Seiten zu öffnen, eine große Kreuzung, eine lichtdurchflutete Piazza zu schaffen. Dafür wurde auch das Dach erneuert und über die ganze Länge der Halle mit Glas abgedeckt. Da trotz des 450 Millionen Mark teuren Umbaus der Eintritt in Tate Modern frei ist, wird das Konzept aufgeben. Neugierige werden in die Halle strömen, staunen und sich zu einem Spaziergang durch das Haus animieren lassen.

Es lohnt sich. Herzog & de Meuron haben nicht nur perfekte Ausstellungsräume geschaffen, sie haben auch an die Besucher gedacht, haben Ruheinseln und unvergleichliche Aussichtspunkte eingeplant. Die sieben Stockwerke, die mittels einer fast vier Tonnen schweren Stahlkonstruktion in den Nordflügel des E-Werks eingefügt wurden, wollen entdeckt und erlebt werden. Mit unglaublichem Feinsinn haben die Schweizer die Qualitäten des alten Bauwerks herausgearbeitet, akzentuiert und stellen sie nun mit ihren Mitteln zur Schau. Länge und Breite der erleuchteten Glasgalerien, die wie Schwalbennester an der Mittschiffswand hängen, orientieren sich an den Proportionen der vertikalen Fensterachsen des Altbaus. Wie ein Leitmotiv ziehen sich diese Lichtbänder durch den Bau.

Von den Glasloggien, in denen bequeme Sessel von Jasper Morrison stehen, hat man einen wunderbaren und je nach Stockwerk auch aufregend neuen Blick in die Schlucht der Turbinenhalle. Auf der Nordseite sind links und rechts neben dem Schornstein Balkone entstanden. Man kann nach St. Pauls hinüberschauen oder den Baustellenbetrieb auf der Millenniumsbrücke beobachten. Man kann sich auch vor die großen Fenster setzen und lesen. Das Terrassencafé auf der Flussseite wird genauso wie das gläserne Restaurant im siebten Stock nicht nur Museumsbesucher anziehen. Die luftige Lounge nebst Dachterasse im sechsten Geschoss wird dagegen dem Zirkel der Tate-Förderer vorbehalten bleiben.

Viele neu gebaute Kunstmuseen haben bezüglich ihrer Aufgabe versagt: Es gab keine ausreichenden und überdeckten Anfahrtszonen für die Kunstspediteure und zu enge Transportwege im Haus; auf eine klimatische Trennung von Entree und Ausstellungssälen wurde der Publicity halber mit fatalen Folgen für die Kunst verzichtet; langweilige Saalfolgen räumten den neuen Medien keinen Platz ein, zu knapp bemessene Raumhöhen sorgten dafür, dass zeitgenössische Maler keinen angemessenen Platz mehr fanden; miserables Kunstlicht verfälschte die Farben der Bilder. Flutendes Sonnenlicht schädigte die Exponate. Herzog & de Meuron hingegen scheinen alle Klippen umschifft und eine funktionierende Ausstellungsarchitektur geschaffen zu haben, die ästhetisch bis ins Detail überzeugt. Die großen Laufkatzen, die ehemals Turbinenteile quer durch die Halle hievten, können heute für Transport und Aufbau von Großskulpturen verwendet werden. Klare Porportionen, rohes Eichenparkett oder polierter Betonboden, sockellose Wände, in die Decken eingelassene stufenlos regelbare, mit Mattglas abgedeckte Kunstlichtbänder sorgen für konzentriert ruhige Museumsräume. Die Raumgröße kann variiert werden. Schließlich soll es nicht nur auf der Ausstellungsebene Wechsel geben.

Die Trockenbauwände sind als dicke Hohlkörper konzipiert, so dass sie auch zu Vitrinen umgebaut werden können. Die Raumhöhe reicht von fünf bis zu zwölf Metern. So bekommt der Beuys-Saal an der Nord-Ost-Ecke der Bankside Powerstation auf ganzer Höhe Seitenlicht durch eine der alten Fensterachsen. Dadurch erscheint das wahrhaft monumentale Raumbild „Blitzschlag mit Lichtschein und Hirsch“ ins bestmögliche Licht gerückt. Der graue Francis-Bacon-Raum bekommt sein Licht indirekt durch eine Glaswand aus der Turbinenhalle. Hier verschmelzen Bildinhalte, Raumspiegelungen und Ausblick zu einem thematischen Ganzen. Es gibt Räume mit natürlichem Oberlicht und für die Videoinstallationen schwarze Labyrinthe. Egal wie sich die Kunst in Zukunft entwickelt, auf den 12.000 Quadratmetern der neuen Tate Galerie wird sie Platz finden.

Dabei werden vor allem die jungen britischen Künstler profitieren. Für sie scheint eigens eine Plattform internationaler Kunst geschaffen worden zu sein. Es ist auffallend, wie die Shootingstars der Londoner Szene durch die thematische Hängung in die Nähe der Klassiker gerückt werden. Auch die erste große Sonderschau zum Thema „Jahrhundertstädte“ wird London als Kunstmetropole der 90er-Jahre feiern.

Bei aller Bewunderung für Tate Modern, es gibt auch Verluste zu beklagen. Zwar bildet die Rothko-Kapelle auch in der neuen Tate das Herzstück, doch ist es nicht gelungen, den Sakralraum atmender Farbe authentisch zu transferieren. Rothko hatte seinen Saal in der alten Tate 1968 selbst installiert. Dort herrschte ein unvergleichliche Ruhe und Abgeschlossenheit. Im neuen Domizil sind die Durchgänge zu weit. Permanentes Kommen und Gehen stört jegliche Meditation. Vielleicht sollten an dieser Stelle doch noch Türen eingefügt werden.

Problematisch ist auch die Turbinenhalle als Ausstellungsraum. Zur Eröffnung hat Louise Bourgeois drei rostige Aussichtstürme mit dem Titel „I do, I undo, I redo“ geschaffen, deren aufgesetzte Zerrspiegel den Raum in bizarre Beziehungen zum Betrachter setzten. Gelegentlich schrumpft das eigene Spiegelbild zu Kopf-Kopf- oder Fuß-Fuß-Geburten, löst sich gar in Nichts auf. Unilever wird jedes Jahr einem anderen Künstler ermöglichen, Objekte für die Turbinenhalle zu schaffen. Doch kann nicht jeder haushohe Teleskope bauen, um den Dimensionen des Raums zu entsprechen. Welche Zerrbilder werden aus der Angst geboren, mit der eigenen Kunst in der Industriekathedrale unterzugehen?

Die Attraktivität und die zentrale Lage von Tate Modern bedeutet auch für das Mutterhaus Gefahr: Wie bei der Gründung 1897 geplant, wird es nun als Nationalgalerie Britischer Kunst geführt. Lucien Freud und Francis Bacon zum Beispiel werden hüben wie drüben in jeweils anderen Kontexten zu sehen sein. Das heißt, es bleibt den Visionären William Blake und William Turner allein überlassen, das Publikum weiterhin zur Millbank zu locken. Zumal die derzeitige kunterbunte Versammlung von Portraits und Landschaften aller Zeiten kaum überzeugt. Ist es ein schlechtes Omen, dass es vorerst keine attraktive Schnellbootverbindung zwischen Tate Britain und Tate Modern geben wird?