Beobachter oder Beobachteter?

Er soll für die Stasi gespitzelt haben:Rolf Rosenbrock, Berater von Gesundheits- ministerin Fischer. Sein Arbeitgeber, das Wissenschaftszentrum Berlin, möchte den vermeintlichen Agenten feuern. Diese Woche beginnt Rosenbrocks Prozess vor dem Arbeitsgericht. Bislang unzugängliche Stasi-Akten könnten bald noch tausende solcher möglichen Westspitzel benennen. Ein Porträt

von UTA ANDRESEN

In einem gewissen Sinne ist alles wie immer. Arbeit für die eigene Reputation. Der Professor in seinem Studierzimmer, Unterlagen auf dem Tisch, Papiere auf dem Sofa. Ein komplexes Thema, Überlegungen, Notizen, Thesen. Forschungsarbeit eben. Nur dass der Professor sich jetzt nicht mit Aids, Gesundheit im Betrieb oder der gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigt. Und dass zu den Thesen Strategien hinzugekommen sind. Wie es nun einmal so kommt, wenn man Forschungsarbeit in eigener Sache betreibt. Schön ist das nicht. „Ich bin lieber Anwalt anderer als mein eigener“, sagt Rolf Rosenbrock.

Sieht so ein Spion aus? Dieser schmale Mann vor seinen Büchern? 54 Jahre. Gepflegter Schädel mit einem Anflug von Grau, schmale Brille mit feinem silbernem Rahmen, Augen mit amüsierten Linien an den äußeren Winkeln, schwarze Jeans, grauer Pulli. Oberstudienrat – gut. Aber Spion? Keine geschmeidigen Bewegungen, keine diskreten Telefonate, nicht einmal ein konzentriertes Glitzern in den Augen. Doch warum eigentlich nicht? Realität birgt ja immer etwas Enttäuschendes.

Und muss ein Spion, zumindest ein guter, nicht vor allem eines sein: unverdächtig? Jemand, von dem man einfach nicht glauben will, dass er ein Verräter ist? Wie die Kollegen am Institut, die Studenten, die seit Wochen Rundbriefe mit dem neuesten Stand im Fall Rosenbrock austauschen, die zu Vorträgen der Gauck-Behörde laden, die Journalisten mit entlastenden Theorien füttern.

Geht es nach dem Wissenschaftszentrum Berlin, war Rolf Rosenbrock ausgenommen gut. Achteinhalb Jahre, von 1979 bis 1987, soll er Informationen weitergegeben haben an das Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik – und von der weiß man ja, dass sie alles andere als demokratisch war. Informationen auch über das Wissenschaftszentrum Berlin. So stehe es in einer Computerdatei mit dem Namen SIRA, was „System, Information, Recherche der Aufklärung“ heißt. Dies veröffentlichte Mitte Dezember der Spiegel. Alles in allem legten die Karteiauszüge zumindest einen „starken Verdacht“ nahe, sagt nun der Präsident des Wissenschaftszentrums, Friedhelm Neidhardt. Und dieser „starke Verdacht“ habe das Vertrauen in den Mitarbeiter Rosenbrock zerrüttet. Also Suspendierung, dann Kündigung.

Und schon ist Realität nicht nur enttäuschend, sondern bitter.

Für Rolf Rosenbrock, weil er nicht nachweisen kann, dass er abgeschöpft, also ausgehorcht wurde. Und für das Wissenschaftszentrum, weil es mit letzter Gewissheit nicht nachweisen kann, dass sein langjähriger und renommiertester Mitarbeiter spioniert hat.

Denn die Karteien über Rosenbrock sagen nur so viel: Notiert ist die Quelle Rolf Rosenbrock, genannt IM Maurer, registriert als XV/3169/78. Und unter diesem Kürzel sind Informationen verzeichnet, unter Schlagwort, Datum, Umfang. Wie etwa im Jahre 1979 Informationen über das Programmbudget und den Geschäftsverteilungsplan des WZB, wie über amnesty international und die Finanzierung von Flüchtlingen aus Chile. Ein Jahr später dann Informationen über die Solidarność-Sympathisanten in Westberlin.

Aber die Karteien über Rosenbrock sagen auch so viel: Es gibt keine Verpflichtungserklärung, keine Wortlautprotokolle, keine Dokumente. Was es gibt, sind Abschriften aus der so genannten Rosenholz-Kartei, einer Kartei, die sich amerikanische Geheimdienstler nach dem Fall der Mauer sicherten und in der mehrere tausend westdeutsche Quellen, abgehörte wie spitzelnde, verzeichnet sind und die Rolf Rosenbrock als „IM Maurer“ führt. Und was es gibt, sind jene Computerausdrucke aus SIRA, einer „rekonstruierten Datenbank“, wie sie die Gauck-Behörde einschränkend selbst nennt. „Dass da nichts bewiesen werden kann“, sagt Rolf Rosenbrock, „liegt nicht nur daran, dass da nichts dran ist, sondern auch daran, dass diese Computerausdrucke uneindeutig sind.“

Was nun? Ganz klar, sagt Rosenbrock: Klagen. „Ich betrachte mich selbst als Fehlbuchung.“ Am 18. Mai wird der Fall Rosenbrock gegen Wissenschaftszentrum in erster Instanz vor dem Arbeitsgericht Berlin verhandelt. Und das ist der Grund, warum der Professor nun Tag für Tag einen kopfhohen Stapel Papiere wälzt, vielleicht findet sich ja irgendwo ein Zeichen, das ihm den Weg zurück an seinen Arbeitsplatz weist.

Kann man überhaupt zurückwollen, wenn man von seinem Arbeitgeber als Spion verdächtigt wird? Das sei schwierig zu beantworten, sagt Rolf Rosenbrock. Zum einen: „Die Kränkung ist tief.“ Zum anderen: „Das WZB ist meine Infrastruktur, meine zweite Haut.“ Vielleicht ist es aber auch das: „Es gibt keinen besseren Ort für meine Forschung als das WZB.“ Professor für Sozialwissenschaften und Gesundheitspolitik, Leiter der Abteilung Public Health am WZB, Gesundheitsweiser der Bundesregierung: Kein Zweifel, Rolf Rosenbrock hat Karriere gemacht.

Was sagt ein Bücherregal über den Menschen, der es sortiert hat? Die Marx-Engels-Werke, in Leinen gebunden, eines wie das andere, sicher an die zwanzig, auf dem obersten Brett. Ein Ehrenplatz, aber unerreichbar für den täglichen Gebrauch. Die Aktenordner mit den Unterlagen über das Wissenschaftszentrum Berlin im untersten Fach. Nicht im Blickfeld – wie man es mit Sachen macht, die zu profan sind, um präsentabel zu sein, dafür griffbereit. Pierre Bourdieus „Praktische Vernunft“ und Richard Sennetts „Kultur des neuen Kapitalismus“ auf dem kleinen Tisch. Nachlässig abgelegt, vielleicht zur entspannenden, wohl eher zur nachdenklichen Lektüre auf dem Sofa. Alles klar: die Arbeits- und Identitätsklause eines reichlich linken Intellektuellen. Wahrscheinlicher: die Klause eines Intellektuellen mit linker Vergangenheit.

Anfangs ging es nicht um den Feind. Im Gegenteil. „Ich wollte ein mächtiger Manager werden“, sagt Rolf Rosenbrock. Da musste es ja wohl Betriebswirtschaft sein. Es war 1966, an der Freien Universität zu Berlin. Da konnte es nicht mehr lange Betriebswirtschaft sein. Nicht, wenn der große Bruder einem das linke Spandauer Volksblatt zu lesen gibt. Nicht, wenn der Student Benno Ohnesorg erschossen wird. Nicht, wenn für den Schah von Persien eine ganze Stadt verrammelt wird. Und so rollte Rolf Rosenbrock aus Düren „voll in die Achtundsechzigerzeit ein“. Zunächst in die volkswirtschaftliche Fakultät, dann in die „Rote Zelle Ökonomie“. Morgens um fünf Uhr vor der Frühschicht Flugblätter am Werkstor von Borsig verteilen, danach in die Vorlesung, Kritik am System üben, dann Plakate pinseln wie „Nixon – der Schlächter von Vietnam“, nachmittags mit dem gelben Bauhelm zur Demonstration, abends dann in der Wohngemeinschaft über Keynesianismus plauschen. Vollbeschäftigung der Linken gewissermaßen. „Wir diskutierten Rätedemokratie, Orgasmus, studentische Mitbestimmung, Kommunismus – alles, was man so brauchte damals“, sagt Rolf Rosenbrock.

Alles, was man so brauchte damals. Auch Rolf Rosenbrock wurde gebraucht. Anarchos, Spontis, Maoisten, Trotzkisten: So eine Rote Zelle war keine Organisation Gleichgesinnter, so eine Rote Zelle war bestenfalls ein Konglomerat Gleichorientierter. „Ich habe mich so weit wie möglich aus allen Fraktionskämpfen rausgehalten, meine Aufgabe war es, zu vermitteln.“ Rolf Rosenbrock, der Mediator.

Rund zehnmal wurde der Demonstrant angeklagt, unter anderem als Rädelsführer bei Landfriedensbruch. Darauf standen zehn Jahre, zu einer Verurteilung kam es nie. Gegen den Assistenten der Freien Universität wurde ein Verfahren zum Zwecke des Berufsverbots eingeleitet. Das wurde 1977 eingestellt. Über den Studenten legte der Westberliner Verfassungsschutz eine Akte an. 229 Seiten, mit erkennungsdienstlichem Foto, Protokollen von Demonstrationen, Versammlungen, sogar von Kneipengesprächen.

Und so kam Rolf Rosenbrock neben der Erkenntnis, „wie dicht man jemanden beobachten kann, ohne dass der das merkt“, zu einer noch viel grundsätzlicheren: „Wer nicht mit dem Mainstream läuft, wird mit gewaltigen juristischen Klötzen beworfen.“ So wie heute, soll das wohl heißen. Ganz beiläufig erzählt der Gesundheitsprofessor von seiner einstigen Observation durch den Verfassungsschutz. Wohl gerade deshalb ist die Botschaft seiner leisen Worte umso lauter: Hier sitzt ein Verfolgter.

1972 ist es so weit. Das Diplom ist geschafft, die Studentenbewegung zerfällt. „Jeder gründete nun seine revolutionäre Arbeiterpartei.“ Das war die K-Gruppen-Phase, und Rolf Rosenbrock hatte keinen Bock mehr. Auf Achtundsechzig. Auf Deutschland. Wo geht da ein Linker hin? Eben, nach Chile. Doktorarbeit schreiben über die Unidad Popular, die Sammlungsbewegung des Sozialisten Salvador Allende. Pech nur für Rosenbrock, dass, während er in Genua auf sein Schiff wartet, sein Promotionsthema weggeputscht wird. Rosenbrock reist trotzdem, nimmt im Land Kontakt zu Dissidenten auf, besorgt ihnen Fahrkarten nach Argentinien, schafft sie in Botschaften, die deutsche etwa, schmuggelt Apfelsinen und Kassiber in Gefängnisse, wie er sagt. Er bleibt bis 1974, forscht nun über die wirtschaftlichen Folgen der Militärregierung. Fazit: „Harte neoliberale Chicago Boys, entsprechend verheerend für die Bevölkerung.“ Rolf Rosenbrock, der Sozialist.

Da hat die DDR vielleicht gefallen? „Die DDR war nichts, was ein Vorbild für den Westen sein konnte, die DDR war ein Polizeistaat“, sagt Rolf Rosenbrock. Aber als Politikwissenschaftler sei man schlecht beraten, wenn man nur die eine Seite sehe. „Diese Abschottung war auch ein Produkt des Vernichtungsdrucks des Westens, es brauchte also Entspannung“, sagt Rosenbrock. Hier die bösen CIA-Agenten, dort die bösen Zonis, hier null, dort eins, hier Schwarz, dort Weiß – so ein Denken habe er sich stets verboten. „Ich war ein Antiantikommunist.“ Einer, der den Westen für seine Verteufelung des Ostens und den Osten für seine jämmerliche Vorstellung von Marx und Engels verachtete.

Zweimal in seinem Leben, sagt Rolf Rosenbrock, habe er Kontakt mit einem Agenten gehabt. Zumindest nimmt er das an. Denn klar wurde ihm das erst, als er 1994 vom Bundeskriminalamt vernommen wurde. Das hatte damals aus den USA die Information erhalten, dass Rosenbrock von der Stasi als „IM Maurer“ geführt wurde. „Mir war klar, ich komme da nur raus, wenn ich kooperiere“, sagt Rolf Rosenbrock. Also ließ er sich von den Kriminalbeamten erklären, wie sich so ein DDR-Agent an einen ranmacht, und erzählte dann, auf welche Menschen in seinem Leben dieses Ranpirschen passte. Es passte, so Rosenbrock, auf einen Chilenen, und der wurde tatsächlich ermittelt. Und es passte auf einen Wissenschaftler der Humboldt-Universität, wie Rolf Rosenbrock sagt. Der ist bis heute unbekannt.

Es war Ende der Siebzigerjahre, der Mann interessierte sich für Wirtschaft und Gesundheitswissenschaft, diskutierte anregend. Rolf Rosenbrock gab ihm irgendwann Diskussionspapiere, die das WZB im Hausverlag veröffentlicht hatte. Man sah sich sporadisch, in West-, in Ostkneipen, im Büro, in der WG. So ging das ein, zwei Jahre. „Dann tropfte der aus meinem Leben.“ Rolf Rosenbrock, der Mann mit den Kontakten.

Wenn das nicht ein halbes Geständnis ist! Der Mediator, der Sozialist, der Mann mit den Kontakten. Prädestiniert ihn das nicht für eine Rolle als Inoffizieller Mitarbeiter? Jemand, der sich politisch innerhalb der linken Szene nicht festlegen lässt und zu allen Gruppen Zugang hat? Der nach Chile geht, weil er den westdeutschen Antikommunismus nicht mehr erträgt? Der Kontakte mit DDR-Spionen zugibt? Ein Mann, der zwischen unterschiedlichen Systemen vermitteln will? Warum also nicht auch zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik? Spionage als ausgleichende Geste gewissermaßen? Und ist ein Mann, der stets alles im Griff zu haben scheint, zumindest seine Karriere, nicht unglaubwürdig als Opfer, als jemand, der nicht ahnte, wie und was ihm geschah?

Alles plausibel, alles herauslesbar aus Biografie und Karteien. Die Frage ist nur, ob das genügt. Ob es genügt, seine Promotion über Marktstrategien und Konzentrationsprozesse in der Pharmaindustrie zu schreiben – und diese noch heute Kapitallobby zu nennen. Ob es genügt, das Bild eines Altachtundsechzigers zu liefern, der politische Kontakte in die DDR hält, wie es wohl tausende Westberliner Studenten in den Siebzigerjahren taten, die sich in der Soli-Bewegung, sei es für Nicaragua, Libanon oder eben Chile, engagierten. Genügt das? Um als Spion zu gelten – offensichtlich. Um Spion zu sein – sicher nicht.

Im April haben die USA der Bundesrepublik eine erste CD-ROM der Rosenholz-Kartei ausgehändigt. Und nun hofft Rolf Rosenbrock auf die Veröffentlichung einer Kartei, in der er verzeichnet ist, aber die vielleicht manches zurechtrücken könnte. „Dabei könnte sich herausstellen, dass am WZB wirkliche Agenten tätig waren“, sagt er. Wenn diverse Kollegen als Inoffizielle Mitarbeiter überführt werden, was gilt dann so ein läppischer Eintrag ohne Verpflichtung schon noch? Wenn diverse Schlagworte sich als falsche Fährten entpuppen, wen interessiert dann noch so eine Kartei? Wenn sich herausstellt, dass die Stasi auch Informationen aus einer abgeschöpften Quelle unter dem Namen eines IM vermerkt hat – was sie gerne tat, wie es in der Gauck-Behörde heißt? Und wer vertraut schon auf eine Kartei, die unter Experten als so unsicher gilt, dass sie nur mit anderen Akten zusammen, wenn überhaupt, Erkenntnisse bietet?

Was aber, wenn diese Kartei keine Klarheit bringt? Dann bleibt der Fall Rosenbrock das, was er ist: eine Frage des Glaubens. Eines Glaubens mit drei Auslegungen.

Rosenbrock, der Täter, hat jahrelang bewusst und vorsätzlich gespitzelt.

Rosenbrock, der Mitteilsame, hat, ahnend, mit wem er spricht, ein wenig geplaudert, ohne sich zu verpflichten.

Rosenbrock, das Opfer, ist eine Fehlbuchung, abgeschöpft und also unschuldig in die Akten der Stasi geraten.

Mitte Dezember – der Spiegel hatte ihm die Aufdeckung angekündigt – entschloss sich Rolf Rosenbrock zu telefonieren. Wenn das stimme, was da gedruckt werden solle, dann sei das kein Kavaliersdelikt, sagte Andrea Fischer. Aber: Für sie gelte die Unschuldsvermutung. „Da bin ich mit Ihnen ganz einer Meinung, Frau Ministerin“, antwortete Rolf Rosenbrock.

Realität birgt immer Enttäuschung. Das aber wenigstens für alle.

UTA ANDRESEN, 30, ist verantwortlich für Porträts und Reportagen in der taz. DETLEV SCHILKE, 44, lebt als freier Fotograf in Berlin. Seine Schwerpunkte: Jazz, Porträt, Wirtschaft.