Das Elend des Alters

Die Rentenreform von Rot-Grün macht die gleichen Fehler wie die Regierung Kohl. Altersarmut wird nicht verhindert, sondern gefördert. „Zwangssparen“ wäre eine echte Alternative

von HARRY KUNZ

Ein winziges Häuschen in der Eifel. Ein bewohnbares Zimmer, die anderen Räume durch Wolldecken abgetrennt. „Ich spare Licht“, sagt die arme Frau. „Das war immerhin leichter als Essen zu sparen.“ – Nur ein Satz aus der sozialistischen Mottenkiste Ernst Blochs? Oder zeigen die bedrückenden Lebensumstände meiner Nachbarin, dass unser Rentensystem Altersarmut nicht beseitigt, obwohl Grün bis Schwarz das Gegenteil beschwören?

Laut Statistik scheint die Altersarmut überwunden: Während jedes siebte Kind sozialhilfeabhängig ist, treten weniger als zwei Prozent der über 65-Jährigen den Gang aufs Sozialamt an. Für die Generation der heutigen Rentner stimmen die Annahmen des Rentensystems weitgehend: Dass also die Männer, als Hauptverdiener der Familie, mindestens 45 Jahre berufstätig waren. Und dass ihre Ehefrauen, neben der Kindererziehung, noch ergänzende Erwerbseinkünfte beitrugen. Mit einer Rente, die 70 Prozent ihres durchschnittlichen Einkommens beträgt, hat man ihnen den gewohnten Lebensstandard auch im Alter ermöglicht.

Doch die Zeiten ungebrochener Erwerbs- und Ehebiografien sind vorbei. Längere Ausbildungszeiten, dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, mehr Niedrigeinkommen und vielfältigere Lebensformen werden dazu führen, dass die Altersarmut zurückkommt. Dieser Trend wird durch die aktuelle Politik noch verschärft. Rot-Grün trifft im Wesentlichen die gleichen Fehlentscheidungen wie ihre Vorgängerregierung. Dies wird sich auch bei den nächsten parteiübergreifenden Rentengesprächen am 18. Mai zeigen.

Das Renteniveau soll weiter abgesenkt werden. Immer noch ist der „demografische Faktor“ im Gespräch – von der alten Bundesregierung beschlossen und auch von den Grünen gefordert. Und aktuelle Bestrebungen gehen dahin, die Renten von der Nettolohnentwicklung abzukoppeln. Das Grundproblem dieser Vorschläge: Das Rentenniveau wird prozentual für alle im gleichen Maße reduziert – unabhängig vom Ursprungseinkommen. Damit wird das Tor zur Altersarmut weit geöffnet. Dies wird vor allem die heute Jungen treffen.Wir steuern auf eine extreme Spreizung der Einkommen im Alter zu: Hier eine Mehrheit, die neben der gesetzlichen Rente auf ergänzende Einkünfte aus ererbtem oder angespartem Vermögen zurückgreifen kann. Dort jene, die ihren Lebensabend auf Sozialhilfeniveau verbringen müssen.

Schon heute erreichen neun von zehn Frauen und die Hälfte der Männer kein Rentenniveau, das ihren Lebensstandard sichert. Ein Durchschnittsverdiener muss mindestens 26 Jahre lang arbeiten, um überhaupt eine Rente zu erhalten, die die Sozialhilfeschwelle überschreitet. Sinkt das Rentenniveau weiter, wird sich künftig rund die Hälfte der gesetzlichen Renten im Bereich des Sozialhilfesatzes einpendeln. Zwar mündet eine niedrige Rente nicht automatisch in Altersarmut. Viele haben ergänzende Einkünfte aus Mieten, Lebensversicherungen oder Kapitalerträgen. Doch solche zusätzlichen Einnahmen fehlen gerade bei den von der neuen Altersarmut besonders bedrohten Gruppen. Wer länger arbeitslos war, im Niedrigeinkommensbereich jobbte oder als Geschiedene bzw. Alleinerziehende streckenweise nicht berufstätig war, sollte sich tunlichst nicht auf die gesetzliche Rente verlassen!

Fraglos muss sich das Rentensystem an die Bedingungen einer ergrauten Republik anpassen. In 30 Jahren wird voraussichtlich jeder Dritte über sechzig Jahre alt sein. Diese höhere Lebenserwartung muss durch demografische Komponenten in der Rente berücksichtigt werden. Aber es gibt Alternativen, die die laufenden Konsensgespräche nicht ausreichend beachten. Ganz entscheidend wäre, sich vom Prinzip der prozentual gleichmäßigen Kürzung zu verabschieden. Stattdessen müssten niedrige Renten unberührt bleiben und dafür höhere Renten stärker belastet werden. Schließlich konzentriert sich die Zunahme der Lebenserwartung bei den besser gebildeten und einkommensstarken Schichten. Warum sollen die wirtschaftlich Schwächeren mit ihren Beiträgen die längeren Rentenzahlungen für Einkommensstärkere mitfinanzieren? Dagegen wird häufig eingewandt, dass dies mit dem Versicherungsprinzip nicht vereinbar wäre, wonach die Rentenhöhe den entrichteten Beiträgen entsprechen soll. Doch ist dies ein Irrtum. Gerade die Versicherungsmathematik ist gewohnt, die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Berechnung der Beitragssätze zu berücksichtigen. Es ist also nur konsequent, die Langlebigen schon vorab zur Kasse zu bitten.

Die rot-grüne Regierung ist sich durchaus bewusst, dass sie die Altersarmut fördert – wenn auch gebremst im Vergleich zur alten Bundesregierung. Daher will man die Folgen der eigenen Politik abschwächen: durch eine Mindestrente und indem man Kindererziehungszeiten stärker berücksichtigt. Mit Steuergeldern sollen manche niedrigen Renten geringfügig über das Sozialhilfeniveau gehoben werden; Teilzeitbeschäftigte mit Kindern unter zehn Jahren werden gesondert gefördert. Doch bleibt dies Stückwerk: Anders als in anderen europäischen Ländern soll die Mindestsicherung nicht für alle Bürger gelten, sondern nur für langjährige Beitragszahler. Die Allgemeinheit würde also qua Steuern die Renten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe subventionieren, während etwa die wachsende Zahl von Selbständigen mit nur geringem Einkommen ausgeschlossen bliebe.

Dabei hatte Sozialminister Riester ein Konzept präsentiert, das der Verfestigung der Zweidrittelgesellschaft im Alter begegnen könnte: die Idee einer obligatorischen privaten Altersvorsorge, die prompt als „Zwangssparen“ denunziert wurde. Zu Unrecht. Die Rentenkassen müssen um ein zweites Bein ergänzt werden; anders ist die Altersversorgung angesichts des demografischen Wandels nicht zu sichern. Denn die Alternative, die die Gewerkschaften und Teile der SPD diskutieren, ist nicht tragfähig: Die obligatorische Betriebsrente würde nur eine bestimmte Klientel privilegieren – die Industriebeschäftigten im Westen.

Eine alle Sparformen nutzende, staatlich geförderte private Altersvorsorge ließe hingegen individuelle, vererbbare Ansprüche für sämtliche Beschäftigten entstehen. Welche der vielen möglichen Sparvarianten gewählt wird, sollte weitgehend individuell gestaltet werden. Doch unbedingt muss das Sparen als solches zwingend vorgeschrieben sein. Denn es ist eine Fiktion zu glauben, die Einzelnen würden sich alle freiwillig für eine private Altersvorsorge entscheiden. Wer denkt schon mit 25 Jahren an seine Rente? Und bei prekären Einkommensverhältnissen wird auch in mittleren Jahren zuerst auf den Aufbau einer Altersvorsorge verzichtet. Es ist ein sozialpsychologisches Faktum, dass die Wahrscheinlichkeit eigener biografischer Brüche unterschätzt wird. Künftige Bedürfnisse werden in der Konkurrenz mit gegenwärtigen Interessen vernachlässigt – die vorrangig auf aktuelle Wählerumfragen schielende (Ren- ten-)Politik ist hierfür selbst ein Beispiel.

Hinweise:Höhere Renten sollten stärker gekürzt werden – niedrige gar nichtDie Betriebsrente privilegiert nur den Industriearbeiter im Westen