Die Erde inhaliert

Was von Kalifornien übrig geblieben ist: James Bennings Film „El Valley Centro“

von HANNS ZISCHLER

Wir sehen – in Zentralperspektive – einen von Bergen eingefassten Stausee, dessen Wasser von einer riesigen Öffnung angezogen wird. Der Sog der physikalischen Kräfte ist atemberaubend. Der Blick wird von einem Taumel erfasst und hat Mühe, nicht selbst verschlungen zu werden. Die Erde inhaliert Wasser. Mund, Schlund, Orkus. Omen. Ein riesiges Überlaufrohr im Lake Berryesa, das in eine für den Betrachter unsichtbare Turbine mündet. 2 Minuten 24 Sekunden lang, so lang wie eine kleine 16-mm-Spule bei 24 p/s.

Was eine Einstellung im emphatischen, politischen Sinn sein kann, zeigt James Benning 35-mal in seinem hellsichtigen, überwältigenden Film „El Valley Centro“. Ein politischer Landvermesser bei der Arbeit. Benning kartografiert die physikalische Geografie des Grand Central Valley – das ist der abstrakte andere Name für Kalifornien und ebenso namenlos wie die United States – mit seiner 16-mm-Kamera wie mit einem Theodolit.

Bild für Bild, Karte für Karte – und durch die relative Länge und Unverrücktheit der Einstellung wirken die Nachbilder stark weiter – setzt sich allmählich das Muster eines Landes, einer Landschaft zusammen, die in extremer Weise zugerichtet, mechanisiert, bürokratisiert und anonymisiert wurde. Wir sehen weniger Landschaft als Landverbrauch, agroindustrielle Zonen und deren Preisgabe an die Naturkräfte‚ die Erosion und Verseuchung. Intensivste Exploitation der Ressourcen ist der Imperativ, dem dieses Land zu gehorchen hat. Ein Kommentar, der erklären soll, was hier aus der Unsichtbarkeit der seriellen, monetären Zeit in die Sichtbarkeit des industrialisierten Raums tritt, ist überflüssig. Wenn Menschen überhaupt vorkommen, dann nur in Funktion zu jenem alles regulierenden Imperativ.

Der Standpunkt der Kamera, des Theodolits, markiert die unüberschreitbare Schwelle zum Privateigentum. Jenseits des Stativs beginnt die No-go-Area. Ein Spaziergänger oder Wanderer ist hier nicht nur unerwünscht, sondern einfach unvorstellbar. Und selbst wenn er hier auftauchte, es gäbe keine Wege für ihn. Die kalifornische Landnahme, der Kollektivraub, der aller Kollektivierung vorausgeht, ist seit gut hundert Jahren abgeschlossen. Die ehemaligen, individualistischen Räuber und Totschläger sind mittlerweile selbst beraubt worden. Das Land ist unter anonymen Korporationen oder hoch mechanisierten Farmen aufgeteilt. Benning steht an den Punkten, von denen aus einigermaßen ungefährdet ein – letzter - Blick ins Gelobte Land möglich ist.

Gefährlich tief rast das Pestizid sprühende Flugzeug, der crop duster‚ in Dixon auf dem Areal der William D. Joslin Inc. auf den Betrachter zu. Und kein Cary Grant weit und breit, der die Flucht ergreift.

Irgendwo – in Kren City zum Beispiel - werden gerade Häuser zusammengebaut; doch so, wie sie hochgezogen werden, ahnt man bereits ihren Abriss. Es ist auch gleichgültig, ob sie hier oder dort stehen, wie es für die Bewohner egal ist, wo sie heute oder morgen hausen werden. Der Nachbar ist da, wo das nächste Haus steht oder hingestellt wird. So etwas wie ein ländlicher Kontext erschließt sich allein aus der kapitalistischen Nutzung der Landschaft. Wenn die Produktionsprioritäten neu definiert werden bzw. die Erosion voranschreitet, verschwindet dieser Kontext, verschwindet das Haus, verschwinden die Nachbarn, verschwindet die Landschaft.

Man ahnt beim Betrachten dieses Films, warum für die sowjetischen Behörden der 20er- und 30er-Jahre die amerikanische Industrialisierung der Landwirtschaft so überaus attraktiv war und wie eine konkrete Utopie behandelt wurde: Effiziente Maschinen beherrschen mit Hilfe von manpower und Chemie riesige Landschaften. Sie monopolisieren die Landschaft. Die reine Effizienz schien mit den Händen zu greifen, der allgemeine Nutzen (Segen) war unbestreitbar.

Das Glücksversprechen scheiterte in der Sowjetunion an der Leugnung des Weltmarktes. Autarkie ist eine insuläre, solitüdenhafte Agrarfantasie des 18. Jahrhunderts, eine Phalanstère mit ideologischen Treibsätzen. In einem Bild von Benning sehen wir eine Vision, die aus einem Roman des sowjetischen Apokalyptikers Andrej Platonow entsprungen sein könnte: Ein Wüstensturm treibt wurzelloses Buschwerk in unaufhörlichen, frenetischen Schüben zum Horizont. Wir befinden uns auf dem Terrain der Shell Oil in Blackwells Corner. Möglicherweise ist in dieser Einstellung die Vergangenheit und das Scheitern der sowjetischen Fiktion als Zukunft der neuen kalifornisch-kapitalistischen Landnahme abgebildet.

Halb verständliche, menschliche Laute dringen nur selten zu uns herüber, so im vorletzten Bild, wenn die Spanisch sprechenden Weinpflücker auf der Carrion Farm Nr. 12 für Augenblicke aus der schier endlosen Staketenreihe des Weinlaubs treten, um sogleich wieder darin zu verschwinden. Sie sind nur mit dem Rücken zu sehen. Sie riskieren, für den illegalen Verkauf ihrer Arbeitskraft bestraft zu werden.

Nach Mitteilung des spanischen Chronisten Herrera hat Cortéz dem Land um 1530 seinen Namen – California – gegeben, in Anspielung auf ein sagenhaftes Land der Amazonen, das reich an Gold und Edelsteinen gewesen sein soll. Die Namensgebung war prophetisch – und wie in allen Prophezeiungen waren Glücksversprechen und drohendes Unheil miteinander verklammert. James Bennings Film überprüft, Bild für Bild, was von diesem Land und seinem Namen übrig geblieben ist.

„El Valley Centro“. Regie: James Benning. USA 2000, 90 Min. Ab heute im fsk, Segitzdamm 2, täglich 18.45 Uhr