Barrieren im Alltag

Gesetze und Normen sollen Behinderten Mobilität garantieren. Doch bei der Umsetzung hapert es. Selbst bei Neubauten wird geschludert
von CHRISTOPH RASCH

Umwege sind für Horst Lemke Alltag. Um mit öffentlichen Verkehrsmitteln von seiner Lichtenberger Wohnung nach Mitte zu gelangen, braucht der 64-Jährige diesmal noch eine Dreiviertelstunde länger als gewohnt: Schuld sind ein kaputter Aufzug am S-Bahnhof und eine defekte Rampe am 240er-Bus. Horst Lemke ist einer der rund 30.000 Berliner Rollstuhlfahrer.

Ilja Seifert ist auch Rollstuhlfahrer, neben dem ehemaligen CDU-Vorsitzenden Wolfgang Schäuble der einzige im Deutschen Bundestag. Dort sitzt Seifert für die PDS und weiß aus Behindertensicht Negatives über das vor einem Jahr neu eröffnete Reichstagsgebäude zu berichten: von Aufzugtasten mit falscher Blindenschrift bis hin zu fehlenden Behindertentoiletten im Plenarbereich.

Vom U-Bahnhof bis zum Regierungsbau: Durch eine „behindertenfreundliche“ Infrastruktur kann Berlin nicht gerade begeistern. Zu hoch angebrachte Tasten und Griffe, zu schmale Türen, unüberwindliche Treppenstufen sind die Regel: Vor allem die Geschäftswelt – nur Banken bilden eine Ausnahme – ist für Behinderte schwer zugänglich. Alljährlich artikulieren die Behinderten ihren Protest bundesweit. Horst Lemke, zusammen mit Ilja Seifert im Vorstand des Berliner Behinderten Verbandes, liebt dabei die spektakuläre Aktion: Vor zwei Jahren ließ er sich per Schwerlastkran am für ihn unzugänglichen Lichtenberger Rathaus hochhieven.

Heute am Europäischen Protesttag der Behinderten will Lemke vor dem Bundesarbeitsministerium eine symbolische „Klagemauer“ aus Pappkartons zum Einsturz bringen (siehe Kasten).

Fast 500.000 Behinderte leben in Berlin, 26.000 von ihnen sind auf die Dienste der Telebusse angewiesen, weil sie sich nicht selbstständig durch die Stadt bewegen können. Denn nur jeder zweite S-Bahnhof hat einen Aufzug, auf den U-Bahnhöfen im Ostteil der Stadt sind Fahrstühle gar Mangelware.

Und folgt man den Plänen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG), müssen die Behinderten demnächst noch weiter zurückstecken. Denn Drehkreuze und automatische Türen sollen in Zukunft die Bahnhöfe abriegeln.

„Berliner Bahnhöfe müssen barrierefrei bleiben“, fordert daher Martin Marquard, der erst vor wenigen Tagen als Behindertenbeauftragter des Senats berufen wurde – ein halbes Jahr nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus. Marquard, der erste selbst Behinderte in diesem Amt, sieht in den Plänen der Verkehrsbetriebe einen großen Rückschritt: „Schon das von den Verkehrsbetrieben getestete Chipkarten-Konzept erwies sich als nicht behindertengerecht. U-Bahn-Drehkreuze wären für die Mobilität der Rollstuhlfahrer ein Schlag ins Kontor“.

Zwar sollen – auf dem Papier – seit 1996 „öffentlich zugängliche“ Gebäude behindertengerecht, also ohne Hindernisse, gebaut werden. Doch die Praxis sieht oft anders aus. „1992 wurden großartige Leitlinien für eine behindertengerechte Stadt konzipiert“, erinnert Horst Lemke, „um die Stadt attraktiver für eine Olympiabewerbung zu machen.“ Die Umsetzung werde aber eher halbherzig betrieben.

„Auch die Umsetzung von Gesetzen unterliegt der Haushaltslage“, muss Martin Marquard einräumen. Für flächendeckende Umbauten ist in Berlin kein Geld vorhanden. Dennoch sind sich die lokalen Behindertenverbände einig: Berlin ist behindertenpolitisch nicht unbedingt auf dem Holzweg. Dagegen spricht, dass hier 1999 erstmals in Deutschland ein „Gesetz zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne Behinderungen“ verabschiedet wurde. Ein Beispiel, für das Behinderte anderer Bundesländer in dieser Woche noch demonstrierten.

Dagegen spricht auch, dass ein eingesetzter „Landesbehindertenbeirat“ nicht nur empfehlen darf, sondern vom Senat Stellungnahmen fordern kann und mit den Verkehrsbetrieben an einem Tisch verhandelt. Kein Holzweg also, aber einer mit vielen nicht nur metaphorischen Hindernissen.

Der Movado e. V. hat seit 1992 50.000 Bauten in Berlin geprüft. Den Ergebnissen zufolge werden nur rund 20 Prozent der Berliner Gebäude mit Publikumsverkehr den Rollis gerecht. 90 Prozent der medizinischen Einrichtungen bleiben für sie unerreichbar, ebenso 97 Prozent der Berliner Restaurants und Kneipen.

„Die Überwachung der Bauvorschriften durch die Behörden sind zu schlaff“, bemängelt Movado-Projektleiterin Irina Pfützenreuter. Und ganze Branchen scheinen sich für die Belange der Behinderten wenig zu interessieren. Während des silvesterlichen Touristenansturmes registrierte der Verein gerade 190 „barrierefreie“ Hotelzimmer.

Die DIN-Norm 18024/25 regelt die behindertengerechten Baubestimmungen: von der zumutbaren Höhe von Treppenstufen bis zum Wendekreis, den ein Rollstuhl braucht. In Berlin ist die DIN-Vorschrift aber nicht auf den neusten Stand gebracht worden. „Da ist die Unternehmerlobby davor“, kritisiert der PDS-Abgeordnete Ilja Seifert.

„Kein Bauherr baut automatisch barrierenfrei, solange kein Gesetz das vorschreibt“, weiß Horst Etter von der Berliner Behinderten-Liga. „Und die Bauaufsichtsämter üben sich in Nachsicht.“

Das betrifft nicht nur teure Modernisierungen, sondern auch Neubauvorhaben. Etter nennt besipielsweise 1.000 Wohnungen, die vor drei Jahren im südlichen Rudow gebaut wurden, und von denen etliche für Behinderte unbenutzbar seien.

Selbst die Vorzeigearchitektur in den Hackeschen Höfen oder am Potsdamer Platz sei teilweise schwer zugänglich, so Etter. In die dortige Spielbank können Rollstuhlfahrer etwa nur über einen separaten Seiteneingang gelangen.

„Das ist eigentlich nicht gesetzeskonform“, so der Senatsbeauftragte Marquard. Inzwischen wird auch auf dem Debis-Areal rund um den Marlene-Dietrich-Platz über bauliche Hindernisse nachgedacht, „aber nur, weil ein paar Promis medienträchtig bei der Berlinale über ein paar unmarkierte Stufen stolperten“, so Seifert.

Das Engagement der Bezirke, „die vor allem im Ostteil fast alle mit Behindertenbeiräten ausgestattet sind“, sei ja vorhanden, sagen die Organisationen. Doch das Geld fehlt. „Leitlinien bringen bei leeren Kassen nichts“, so der Tiergartener Jugendstadtrat Michael Wendt (Grüne), „denn mit neuen Gesetzen schürt man bei den Betroffenen große Erwartungen – und nichts passiert.“ Wendt, der selbst Rollstuhlfahrerist, setzt auf kleine Erfolge. Wie auch die Movado-Projektleiterin: „Durch Gesetze alleine ändert sich nichts, solange die Institutionen sie nicht bekannt machen und ressortübergreifend bis auf die Bezirksebene durchsetzen“, so Pfützenreuter.

Horst Lemke fährt heim. Am Rollstuhlplatz im Bus der BVG hängt ein scharfkantiger Plastik-Infokasten, direkt neben Lemke in Kopfhöhe. „Der ist hier wohl fehl am Platz“, sagt er, und: „Wir Rollstuhlfahrer wollen keine Extrawürste gebraten bekommen, denn Hindernisse behindern schließlich jeden, uns nehmen sie aber die Mobilität“.

Zitat:HORST ETTER, BEHINDERTEN LIGA:Kein Bauherr baut barrierenfrei, solange kein Gesetz das vorschreibt.