Arroganz der Supermacht

Die Sicherheitsinteressen Europas und der USA unterscheiden sich. Die Amerikaner müssen einen Teil ihres internationalen Führungsanspruchs abgeben – zugunsten einer Partnerschaft
von PAUL HOCKENOS und JULIANNE SMITH

Zähneknirschend hat Washington zugestimmt, dass Horst Köhler Chef des Internationalen Währungsfonds wird – gestern trat er sein Amt an. Die einstimmige Wahl von Köhler, nachdem der erste deutsche Kandidat Caio Koch-Weser an den USA gescheitert war, hat die transatlantischen Unstimmigkeiten für kurze Zeit übertüncht. Aber die jüngsten Spannungen zwischen Europa und den USA sind mehr als nur oberflächliche Familienzwistigkeiten: Sie verweisen auf ein gestärktes Deutschland, das bereit ist, für seine eigenen – und natürlich für Europas – geopolitische Interessen einzustehen. Denn diese scheinen zunehmend nicht mehr mit den Anliegen der USA zu harmonieren. Über viele Jahre hat Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich, bereitwillig die Rolle als unterwürfiger kleiner Bruder der USA akzeptiert. Heute dagegen fährt Deutschland gegenüber den Vereinigten Staaten einen Konfrontationskurs, der lange Zeit undenkbar gewesen wäre. Die Loyalität zu der US-geführten westlichen Allianz wird dabei jedoch nicht in Frage gestellt.

Kontrovers diskutiert wird zwischen den USA und Europa unter anderem, wie die Sicherheitsrisiken einzuschätzen sind – nach dem Ende des Kalten Krieges und nach den Balkankriegen. Unterschiedlich bewertet wird auch der Charakter der transatlantischen Partnerschaft. Und schließlich sind die politischen und militärischen Strategien umstritten, auf denen diese Partnerschaft beruht. Besonders deutlich wurden die strategischen Eigeninteressen Europas im Kosovo-Konflikt. Er machte die jämmerliche Unfähigkeit der Europäer deutlich, auf regionale Konflikte ohne die Hilfe der USA zu reagieren. Einig in der Überzeugung, dass sich dies nicht wiederholen soll, hat die EU sofort Pläne für ein eigenständiges Krisenmanagement vorgelegt: die „European Security and Defense Identity“. Diese schnelle Eingreiftruppe mit bis zu 60.000 Soldaten würde Europa in die Lage versetzen, umgehend und unabhängig von den USA auf Krisen vor der eigenen Haustür zu reagieren.

Aber die steigende militärische Glaubwürdigkeit Europas war nicht das einzige, was aus der Asche im Kosovo aufstieg. Die erfolgreiche, von Deutschland geführte Friedensinitiative im Frühjahr 1999 zeigte ebenfalls, welche politische Kraft Europa entwickeln kann, wenn es an einem Strang zieht – möglichst gemeinsam mit Russland. Wenn die EU auch künftig eine abgestimmte Außenpolitik betreibt, dann kann dies die amerikanische Dominanz bei Sicherheitsfragen und internationalen Angelegenheiten langfristig schmälern.

Dies entspricht jedoch bisher nicht der Wahrnehmung der USA: In den Vereinigten Staaten wurde der Kosovo-Einsatz wie ein Punktsieg der Nato gemeldet. Für die USA standen nicht die Friedensinitiativen im Vordergrund, sondern die Militäraktionen. Sie gelten als die geeigneten Mittel der Konfliktlösung. Washington forderte daher die europäischen Länder auf, die Verteidigungsausgaben anzuheben, um der „Kooperationslücke“ mit Hightech-Militärausrüstung zu begegnen. US-Politiker machten keinen Hehl daraus, dass sie vergleichbare Einsätze auch in Zukunft ins Auge fassen.

Europa – und speziell Deutschland – hat sich jedoch nicht danach gedrängt, den Kosovo-Krieg als Präzedenzfall anzusehen. Denn auf beiden Seiten des Atlantiks herrschen sehr unterschiedliche Ansichten darüber, wodurch die gegenseitige Sicherheit bedroht wird. Globalisierung, ethnische Konflikte, Instabilität in Russland und Massenmigrationen – das sind die Themen, die dem Auswärtigen Amt in Berlin den Schlaf rauben. Entsprechend sind die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und die Durchsetzung der Menschenrechte die Schlüsselziele der deutschen Außenpolitik. Man will die langfristige Stabilität in Europa sichern, indem die EU allmählich vom Baltikum zum Balkan, vom Atlantik bis zum Ural ausgeweitet wird – unter Einschluss der Türkei. Dabei ist der Prozess selbst schon Konfliktvermeidung par excellence.

Umgekehrt ist den Europäern weniger wichtig, was die USA als zentral ansehen: etwa Angriffe von Nordkorea und Iran mit Langstreckenraketen, chemische und biologische Waffen oder terroristische Anschläge auf Botschaften. Die Reaktion der USA auf diese Bedrohungen, nämlich ein Raketenabwehrsystem zu entwickeln, scheint tatsächlich geradezu absurd. Warum wollen die USA nach einem Jahrzehnt deutlicher Abrüstung die Uhr zurückdrehen? Dies ist für Europäer kaum nachvollziehbar. Für Deutschland, das ein Drittel der russischen Schulden trägt, ist es ohnehin unverständlich, wenn auch nur das kleinste Risiko eingegangen wird, Russland zu destabilisieren.

Viele Deutsche und andere Europäer sind zunehmend verärgert über die amerikanische Politik, die sie als anmaßend und als eine kriegstreiberische Einschüchterung wahrnehmen. Deutschland etwa, ein standfester Befürworter des Multilateralismus, plädiert dafür, immer mehr Bereiche der nationalen Souveränität an die EU oder die UNO abzutreten. Die USA hingegen zahlen weder vollständig ihre Beiträge an die Vereinten Nationen, noch unterstützen sie den Internationalen Gerichtshof – ganz zu schweigen von den multilateralen Abkommen, wie das Atomtest- oder das Landminenverbot, deren Ratifizierung sie seit Jahren verweigern. Diese Haltung erscheint den Europäern als Ausdruck der Arroganz der Supermacht.

Wenn die US-Regierung vermeiden möchte, dass die schwelenden transatlantischen Unstimmigkeiten zu einem Großbrand werden, muss sie allmählich einen Teil ihres internationalen Führungsanspruchs abgeben – zugunsten einer echten Partnerschaft. Die USA müssen Europas legitime Politikinteressen anerkennen, die eine solide westliche Allianz ja keineswegs untergraben, sondern ergänzen. Die Europäer ihrerseits müssen ihre eigenen Pläne präzisieren. So haben Frankreich, Großbritannien und Deutschland jeweils unterschiedliche Vorstellungen entwickelt, wie die geplante europäische Eingreiftruppe auszusehen habe – und keiner hat ein Finanzierungskonzept. Ein anderes Anliegen, das konkretisiert werden müsste: Europa soll erweitert werden. Doch wie groß wird das vereinigte Europa sein, und wie wird es funktionieren?

Nur mit einem solchen neuen und offenen Dialog kann wieder eine funktionierende transatlantische Allianz entstehen.

Übersetzung: Sabine Vogel

Hinweise:Für die USA ist der Einsatz im Kosovo ein Nato-Sieg – das sehen die Europäer andersEin amerikanischesRaketenabwehr system erscheint den Europäern absurd