Doppelleben

Denkmalssturz zum 100. Geburtstag: Der Romancier Ignazio Silone war Informant von Mussolinis Polizei

In dem Abruzzendorf Pescina, in dem am 1. Mai vor 100 Jahren Ignazio Silone das Licht der Welt erblickte, ziert das Konterfei des Schriftstellers selbst die Zuckertütchen, die in der Bar zum Kaffee gereicht werden – ganz als wäre er der Dorfheilige. Und eigentlich galt Silone dem ganzen Land fast als Heiliger, als Vertreter des anderen, des besseren Italien, als Mann, der mit Herz und Seele unter höchstem persönlichem Risiko den Faschismus bekämpft hatte.

Zunächst gehörte er zur Führungsgruppe der illegalen Kommunistischen Partei, aber auch unter den Kommunisten bewahrte er sein eigenes Urteil, und angesichts der stalinistischen Verirrungen 1930 brach er schließlich mit der Partei. Vor allem aber war Silone der große Erzähler, der den bitterarmen Bauern seiner abruzzischen Heimat seine Stimme lieh. Schon sein Erstlingswerk „Fontamara“, zunächst 1930 auf Deutsch erschienen und in den Jahren des Faschismus in Italien illegal verbreitet, machte den Autor in der ganzen Welt berühmt. Es wurde mittlerweile in 27 Sprachen übersetzt.

Silone – er war das Gegenbild zum Wendehals genauso wie zu all den korrupten Politikern, die in Italien Verachtung, aber kaum Erstaunen ernten. Nun allerdings wird dieses Bild umgestoßen. Zwei Historiker legten kürzlich eine Dokumentation vor, die kaum noch Zweifel daran lässt, dass der Schriftsteller ein Doppelleben führte. „Der Informant: Silone, die Kommunisten und die faschistische Polizei“, so der Titel des gerade von Dario Biocca und Mauro Canali publizierten Bands, enthält eine reiche Sammlung an Briefen des Agenten Silvestri. Über Jahre fütterte er Mussolinis Polizei mit Informationen aus der Spitze der Kommunistischen Partei. Er teilte Klar- und Falschnamen kommunistischer Aktivisten mit, meldete präzise Daten und Orte von geplanten Grenzübertritten seiner Genossen, avisierte Geldüberweisungen aus Moskau inklusive genauer Kontenangabe.

Kurz: Er lieferte die gesamte kommunistische Organisation im faschistischen Italien ans Messer. Und hinter dem eifrigen Briefschreiber Silvestri verbarg sich niemand anderer als Secondino Tranquilli – dies der bürgerliche Name Ignazio Silones.

Als erste belastende Dokumente vor vier Jahren aufgetaucht waren, hatte noch der schiere Unglaube überwogen. Oder aber man versuchte, Silone moralisch zu entlasten: Die Polizei habe ihn zum Agentendienst gepresst – seit 1928 saß Silones Bruder in faschistischer Haft. Doch auch diese Erklärung ist mit Bioccas und Canalis Buch widerlegt: Silone begann seinen Spitzeljob schon um 1918, gerade eingetreten in die Sozialistische Jugend.

Wie also soll man sich einen Reim auf das mysteriöses Leben dieses Autors mit einer gespaltenen Identität machen? Silones Jugend verlief traumatisch. Mit 15 wurde er Vollwaise. Im Gefolge des schweren Erdbebens, dem auch seine Mutter zum Opfer fiel, erlebte er barbarische Szenen bis hin zur Leichenfledderei. Der Polizeikommissar Bellone – der Einzige, mit dem Silvestri-Silone korrespondierte – unterhielt zu dem jungen Kommunisten ein fast väterliches Verhältnis. Im Jahr 1930 schließlich durchlitt Silone eine schwere depressive Krise, begab sich zu C. G. Jung in Therapie und begann mit der Niederschrift von „Fontamara“. Das Schreiben als Versuch, sich von der erdrückenden moralischen Last kathartisch zu befreien – oder sich selbst in Umdeutung der durchlebten Erfahrungen reinzuwaschen?

An Silones großem Werk ist nicht zu rütteln. Doch es ist neu zu lesen – eine Mühe, die sich auch in der gegenwärtigen Silone-Debatte kaum jemand gemacht hat. Dabei springt ins Auge, dass die Gestalt des faschistischen Agenten und das Motiv des Verrats in Silones Stücken immer wieder auftauchen. Und immer sind die Spitzel nicht einfach böse, sondern janusköpfig. Schon in der Erzählung „Der Fuchs“ umsorgt ein freundlicher Helfer einen Verletzten – der aber entpuppt sich dann als IM Mussolinis. In „Brot und Wein“ entlarvt sich ein Spitzel selbst, erzählt von seinen Seelenqualen, seiner Zerrissenheit, und bekommt von Silone schließlich die literarische Absolution erteilt als Mann, „der durchs Böse hindurch musste, um Gutes zu tun“. Dieser Satz liest sich nun wie ein Kommentar in eigener Sache. MARINA COLLACI

Dario Biocca und Mauro Canali: „L’informatore: Silone, i communisti e la polizia“. Verlag Luni Editrice, Mailand 2000, 280 Seiten, 30.000 Lire