Energie bleibt katastrophal

14 Jahre nach Tschernobyl: Reaktoren laufen noch, Atomkritiker werden eingeschüchtert. Greenpeace-Studie: Ohne die Lecks in russischen Pipelines wären neue AKWs überflüssig

von MAIKE RADEMAKER

Pünktlich zum heutigen 14. Jahrestag der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl fordert Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) die ukrainische Regierung auf, den letzten laufenden Reaktorblock des Atomkraftwerkes dieses Jahr noch stillzulegen. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace stellte gestern in Hamburg eine Studie vor, wonach Russland auf Atomkraftwerke verzichten könnte, wenn die Lecks an Öl- und Erdgaspipelines geschlossen würden. In Russland laufen zur Zeit noch an drei Standorten insgesamt elf Blöcke des Tschernobyl-Typs.

Die Ukraine hatte den G-7-Staaten 1995 zugesichert, dass der letzte Tschernobyl-Reaktor in ihrem Land 2000 endgültig heruntergefahren wird. Zur Zeit wird er alle paar Wochen an- und ausgeschaltet: Jedes Mal stellen sich kurz nach dem Anfahren kleinere technische Probleme heraus. Im Moment ist er am Netz. Bedingung für das Abschalten von Tschernobyl sind für die ukrainische Regierung Finanzhilfen des Auslands – möglichst für zwei andere AKWs, Khmelnitzky 2 und Rowno 4 (kurz K2/R4 genannt). Trittin wies darauf hin, dass die deutsche Regierung letztes Jahr Vorschläge für ein Gaskraftwerk und eine Biomasse-Verbrennungsanlage gemacht habe.

In der Ukraine sind laut dem Gesundheitsministerium in Kiew allein 3,5 Millionen Menschen, davon eine Million Kinder, aufgrund der radioaktiven Verseuchung durch den Tschernobyl-Unfall an Krebs erkrankt.

Probleme mit den Energiekonzepten gibt es allerdings nicht nur in der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine, sondern auch in Russland. Würden die dort durch marode Pipelines und Nachlässigkeit vorhandenen Lecks an Öl- und Gaspipelines gestopft und verbesserte Technik eingesetzt, wären die 29 russischen AKWs überflüssig, so eine Studie der russischen Abteilung von Greenpeace. Nach deren Untersuchungen liegen die Verluste allein beim Öl bei 10 bis 20 Millionen Tonnen jährlich. „Zum Vergleich – beim Unfall des Holzfrachters Pallas waren es rund 60 Tonnen“, sagte Greenpeace-Experte Christian Bussau. Dass es keine genaueren Zahlen gibt, liegt laut Bussau daran, dass die Meldepflicht für Lecks in Russland überhaupt erst über 100 Tonnen liegt und die russischen Statistiken widersprüchlich sind.

Die riesigen Öllecks sind nicht nur energiepolitisch schwachsinnig, sie schädigen laut Greenpeace zudem auch die Umwelt: Ein Großteil des Öls gelangt in die Flüsse mit weit reichenden Folgen für die Menschen. Die Lebenserwartung der eingeborenen Völker sank laut der Studie in den Regionen, in denen Öl und Gas gefördert wird, zwischen 1959 und 1991 von 61 auf 45 Jahre. „Trinkwasser und Fische sind verseucht, dadurch kommt es schon bei den Kindern zu Erkrankungen“, berichtet Bussau, der eine der Regionen vor kurzem noch besucht hat. Bussau forderte Regierungen und Energiekonzerne der Industrienationen auf, finanzielle Hilfe für die Abdichtung der Pipelines bereitzustellen. Er sieht dabei auch eine Verantwortung der Deutschen: „Immerhin kommt ein Viertel der deutschen Ölimporte aus Russland, und 35 Prozent der Erdgasimporte.“

Währenddessen setzt die russische Regierung weiter auf Atomenergie und bekämpft ihre Atomkritiker. Die Planung sieht den Bau von sechs Reaktorblöcken bis 2005 vor. Man hofft auf westliche Unterstützung; schließlich interessiert sich Siemens für die in Bau befindliche Anlage Kalinin 3. Für die Fertigstellung von Balakowo 5 stellt sich Russland EU-Kredite vor. Ganz so einfach wird das allerdins nicht gehen, da staatliche Bürgschaften wegen der kritischen Schuldensituation des Landes zurzeit nicht genehmigt werden.

Kritiker der Atompolitik haben es schwer: Vor wenigen Wochen wurde das Moskauer Greenpeace-Büro von der Polizei durchsucht. Einem deutschen Mitarbeiter wird seit Anfang des Jahres das sonst übliche Visum verweigert. Der Anti-Atom-Experte Wladimir Sliwiyak von der russischen Umweltschutzorganisation „Ecodefense“ wurde vom Geheimdienst bedroht und unmissverständlich aufgefordert, seine Kritik zu unterlassen.