Einzelgänger auf Distanz

Frank Castorf inszeniert Robert Harris' umstrittenen, fiktiven Roman Vaterland, der in Hitlers Nachkriegsdeutschland spielt  ■ Von Karin Liebe

Harry, hol bitte den Wagen. An Derrick fühlte sich Volksbühnen-Intendant Frank Castorf erinnert, als er die erste Szene von Vaterland las. Eine männliche Leiche wird an der Havel gefunden, Kommissar Xaver März, geschieden, Typ Lonesome, aber aufrechter Rider, ermittelt. So weit, so üblich. Doch von einem normalen, gut und spannend geschriebenen Krimi entfernt sich der englische Journalist Robert Harris mit seinem 1992 erschienenen Thriller in Windeseile. Denn Schauplatz ist ein fiktives Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat.

Vaterland spielt 1964 in den Tagen kurz vor den Feierlichkeiten zu Adolf Hitlers 75. Geburtstag und dem ersten Besuch des amerikanischen Präsidenten Joseph Kennedy im Nachkriegsdeutschland. Die Nazis beherrschen Europa bis zum Ural, wo Deutschland in einen permanenten Partisanenkrieg mit Russland verwickelt ist, als Xaver März im Zuge seiner Ermittlungen an streng geheime Unterlagen gerät, die den Holocaust an Millionen Juden in Vernichtungslagern belegen. Frank Castorf bringt jetzt diesen umstrittenen Bestseller, der intelligent und spannend historische Fakten mit Fiktion vermischt, auf die Bühne – zunächst einmal nicht an sein Stammhaus, die Berliner Volksbühne, sondern ans Hamburger Schauspielhaus.

Ist es ein Zufall, dass die Premiere ausgerechnet am 20. April stattfindet, dem Geburtstag von Hitler? Ob Castorf mit diesem Datum provozieren will? Ein Einfall der Hamburger Dramaturgie, winkt der Alt-rebell ab. Ernst und nachdenklich wirkt der Ostberliner Regisseur beim Pressegespräch. Seine wilden Zeiten mit dem Ruf des Textzertrümmerers im „aktionistischen Freistil“ scheinen der Vergangenheit anzugehören. Was Castorf an Vaterland reizt, ist das Spiel mit der Geschichte, die Möglichkeit, sich wieder einmal daran zu erinnern, dass alles anders hätte kommen können. Aber Spaß hätte es ihm auch gemacht, im Theater eine Detektivgeschichte à la Derrick mit gelebter Historie zu konfrontieren.

Nicht allen hat der Stoff bisher Spaß gemacht. In England und den USA auf Anhieb ein Bestseller, fand der Thriller in Deutschland zunächst keinen Verleger, bis ihn schließlich der Schweizer Haffmans Verlag auf Deutsch veröffentlichte. Als „antideutsch“ diffamierten ihn Kritiker, der „Spiegel“ kanzelte den raffinierten Krimi als „ein bisschen Holocaust für die Horror-Freunde“ ab und fand es „skrupellos“ von Harris, Dokumentarmaterial wie das Protokoll der Wannsee-Konferenz von 1942, bei der die „Endlösung der Judenfrage“ verhandelt wurde, in seinen Roman miteinzubauen. Schlimmer noch: Das Nachrichtenmagazin warf dem ehemaligen BBC-Reporter und heutigen Kolumnisten der „Sunday Times“ politische Unkenntnis und Verharmlosung des Dritten Reiches vor – und verstieg sich sogar zur Behauptung: „Hitler musste so lange siegen, bis er nur noch verlieren konnte.“

Mit seiner Vision eines siegreichen Naziregimes hatte Thriller-Autor Harris offenbar im gerade wiedervereinigten Deutschland in ein Wespennest gestochen. Die Angst vorm bösen Deutschen, der in totalitärer Manier die Nachbarländer beherrscht, grassierte Anfang der Neunziger eben nicht nur im Ausland. Wenn Harris sich kurz nach Erscheinen von Vaterland in der britischen Presse auch besorgt darüber geäußert hatte, dass nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes ganz Europa vor einer Epoche deutscher Hegemonie stehen könne, sind dem Roman selbst schwerlich „deutschfeindliche“ Passagen anzulasten.

Natürlich treten die Nazis nicht gerade als Sympathieträger auf, aber Xaver März ist eine echte Identifikationsfigur. Er wird als aufrechter Einzelgänger geschildert, der nie der Partei beigetreten ist und sich innerlich schon lange vom Regime distanziert hat. Für Xaver März ist Nazideutschland Alltag und Schrecken zugleich. Er lebt in einer Welt, in der die Reichshauptstadt Berlin nach den monumentalen Plänen von Albert Speer umgebaut wurde, Homosexualität und „Rassenmischung“ als Kapitalverbrechen gelten und Abtreibung mit dem Tod bestraft wird. Konformität und rigide Gruppenmentalität regieren, und ein Hund ist die „einzig lebende Kreatur in dem ganzen Haus, die keine Uniform trug“. März steckt im Braunhemd der Waffen-SS, seine geschiedene Frau Klara in der Uniform der SS-Frauenschaft und sein kleiner Sohn Paule im Einheitslook der Pimpfe.

Auch bei Castorf sind alle Deutschen uniform gekleidet: zunächst in Schwarz, dann in Grau. Der pompöse Bühnenraum soll an Speers Architektur erinnern – wobei es naturgemäß einige Schwierigkeiten gab, die Monumentalität auf kleinen Raum zu übersetzen. Immer wieder möchte Castorf den Zuschauer darauf hinweisen, dass der fiktive Text mit historisch belegten Figuren durchsetzt ist. Wie in der Romanvorlage wird auch Dokumentarmaterial in die Inszenierung miteinbezogen, in Brechtscher Manier gibt es zusätzlich Hinweise auf historische Daten. Aber natürlich treten auch die fiktiven Personen auf, allen voran Xaver März, sein opportunistischer Kollege Max Jäger und die amerikanische Journalistin Charlie Maguire. Sie hilft März bei seinen Nachforschungen – und bringt neben all der Kaltherzigkeit und Kaltschnäuzigkeit sogar die Liebe mit ins Spiel.

Premiere: Donnerstag, Schauspielhaus, 20 Uhr; weitere Vorstellungen: 22. April, 4. Mai