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: Die „Neue Rundschau“ fragt nach Text- und Netzkultur heute

IM BETT OHNE INTERNET

Die Neue Rundschau ist eine der ältesten Kulturzeitschriften in Deutschland, 1890 gegründet. Große Autoren schreiben da über große Themen – über Goethe, über Nietzsche oder über Abschiede am Jahrhundertende. Mit ihrer aktuelle Ausgabe ist die Neue Rundschau im neuen Jahrhundert angekommen: Netculture heißt der Schwerpunkt.

Ein heikles Thema für die ehrwürdige Zeitschrift, denn auf dem Terrain der Neuen Medien ist die Konkurrenz groß. Immer mehr junge Zeitschriften verschreiben sich ganz den elektronischen Lebensaspekten; so jung sind manche, dass sie die Weisheit, die Niklas Luhmann Mitte der Neuzigerjahre lehrte, schon mit der Muttermilch eingesogen haben: dass wir nämlich alles, was wir wissen, durch die Massenmedien wissen.

Diese Unerschöpflichkeit der Medien ist das Thema, mit dem das Heft eröffnet wird. „Drehe es und wende es, denn alles ist darin“: Dieser Satz über den Talmud steht im Talmud, und Jonathan Rosen, Feuilletonist aus New York, wendet ihn auf das Internet an. Das Netz sei, wie die jüdische Schriftensammlung, ein unübersichtlicher Haufen aus völlig verschiedenen Texten. Die überlieferten Diskussionen der Rabbis erinnerten an das Palaver in den Chatrooms, und eine Seite im Talmud ähnele einer Homepage: voller Verweise.

Von der Talmud-Seite zur Homepage

„Ich finde es beruhigend, in einem modernen technischen Medium Anklänge eines uralten wiederzufinden“, bekennt Rosen – und er hat Recht: Sein Text ist beruhigend, sogar viel zu sehr. Rosen lässt das Internet teil haben an der Aura der heiligen Texte und stülpt dem Netz so einen Mythos über; einen schönen zwar, aber die vernünftige Erklärungskraft seines Vergleiches ist gleich null.

Der Beitrag des Kulturhistorikers Robert Darnton – das ist einer jener großen Autoren – argumentiert nüchterner. Er prüft die Möglichkeiten, die das Internet der wissenschaftlichen Literatur bietet. Dabei klingt immer wieder Skepsis durch – zum Beispiel, wenn er die Behauptung, das Zeitalter des Buches sei vorbei, heftig abwehrt, und zwar mit der absonderlichen Begründung, dass sogar Bill Gates längere Texte lieber auf Papier als am Bildschirm liest. Wer tut das nicht?

Fast möchte man den Autor trösten: Noch selten hat ein neues Medium ein altes völlig verdrängt – manche Leute lesen sogar noch Zeitung. Darntons Fazit klingt etwa so: Ja, elektronische Bücher wären denkbar, denn man könnte in ihnen wissenschaftliches Rohmaterial präsentieren, und die Leser könnten selbst bestimmen, wie tief sie in das Thema eindringen. Das ist allerdings eine maue Erkenntnis. Selbst Jonathan Rosens Assoziationen über das Potenzial der Links im Netz bieten da noch mehr Anregungen.

Der Beitrag von Darnton ist nicht zuletzt deshalb so enttäuschend, weil es der Autor hätte besser wissen können: Er hat wichtige Studien zum Lesen und Schreiben im vorrevolutionären Frankreich vorgelegt, er kennt den Zusammenhang zwischen diesen Kulturtechniken und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Beziehungen zwischen Lettern und Aufklärung. Doch seine Beschreibung des gegenwärtigen Medienwandels erschöpft sich in der konservativen Freude darüber, dass man ein Buch „auch im Bett lesen“ kann.

Man muss länger blättern in dieser Ausgabe der Neuen Rundschau, um Texte zu finden, die sich offensiver mit den Bedingungen von Kultur im Netz auseinandersetzen – zum Beispiel bis zu Stephan Porombka und seiner kleinen Literaturgeschichte der Neunziger. Er erinnert an die Hoffnungen, die avancierte Künstler vor zehn Jahren in elektronisch produzierte Texte setzten. Assoziativ sollte die neue Literatur sein und mit dem Leser kooperieren. Der dazugehörige Jargon klang etwa so: „Intertextualität durch Vernetzung, Unabschließbarkeit des Textes, Auflösung der Zentralgewalten, Aufhebung der Autorschaft, Ermächtigung des Lesers, digitale Radikaldemokratie.“

Ermächtigte Leser, digitale Radikaldemokratie

Diese revolutionäre Utopie konfrontiert Stefan Porombka mit (Hyper-) Texten, die tatsächlich Mitte der Neunziger in der virtuellen Welt entstanden sind. Und er stellt fest: Sie sind kaum genießbar. Erst in jüngster Zeit hätten sich auch einmal lesbare Texte durchgesetzt: etwa Matthias Polityckis „Marietta“ – die Fortsetzung seines „Weiberromans“ –, Rainald Goetz' Internet-Tagebuch „Abfall für Alle“ oder Thomas Hettches Autoren-Website „Null“.

Als abgeklärt und wenig empfänglich für digitale Utopien beschreibt Porombka diese Projekte, als eine „Internet-Literatur, die durchaus auch im Buch stattfinden konnte“. Dass das Tagebuch von Goetz mittlerweile im Bücherschrank und nicht mehr im Netz steht, scheint Porombkas gelungener Analyse Recht zu geben. Und doch finge an diesem Punkt die Diskussion erst an: Was für Konsequenzen hat dieser Medienwechsel von Elektro zu Retro? Kam der ursprüngliche „Abfall für Alle“ tatsächlich ohne die Spezifität des Internet aus?

Während Porombka also eine Kritik konkreter Kulturproduktion im Netz vorlegt, wagt sich Hilmar Schmundt zu einer allgemeinen Kritik der Netzkultur vor – bestens informiert, flüssig formuliert. Schmundt geht davon aus, dass das Internet längst von Wirtschaftsgiganten beherrscht wird. Das paradigmatische Beispiel für die konzentrierte Macht ist die Fusion von AOL und Time Warner: Größter Internetprovider schluckt größtes Medienimperium.

Hilmar Schmundt sucht nach der guten alten Kulturkritik an dieser Vermachtung der Netze, aber er findet sie nirgends. Jedenfalls nicht bei den üblichen verdächtigen Intellektuellen, Schriftstellern oder Journalisten. Hoffnung macht erst ein Computerprogramm: Linux – jener Gegenentwurf zum Software-Monopol von Microsoft, jenes frei zugängliche Programm, das Coder auf der ganzen Welt fortschreiben. Linux ist angewandte Betriebssystemkritik, befindet Hilmar Schmundt, oder besser: angewandte Systemkritik.

Denn Linux verwischt die Differenz, die die Realität der Medien heute bestimmt. Und die besteht wohl nicht mehr im Unterschied zwischen Autoren und Lesern, Sendern und Empfängern, sondern im Unterschied zwischen Programmierern und Programmierten. RENÉ AGUIGAH

„Neue Rundschau“, 111. Jg., Heft 2: „Netculture“, hrsg. von Martin Bauer. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 184 Seiten, 16 DM