Das bittere Erbe der „Killing Fields“

Die Roten Khmer verlangten absoluten Gehorsam und unablässige körperliche Arbeit. „Dekadente Städter“ wurden vertrieben, Familien getrennt

von JUTTA LIETSCH

„Rubinrotes Blut benetzt die Städte und Ebenen /

von Kambodscha, unserer Heimat /

großartiges Blut der Arbeiter und Bauern /

großartiges Blut der revolutionären Soldaten und Soldatinnen“

(Anfang der Nationalhymne der Roten Khmer)

Als die Soldaten in schwarzen Uniformen kurz nach dem kambodschanischen Neujahrsfest in der Hauptstadt Phnom Penh einmarschierten, jubelte ihnen die Bevölkerung zu. „Ich kann mich noch erinnern, wie überwältigt vor Freude ich darüber war, dass der Krieg endete“, erinnert sich Teeda Butt Mam, die als fünfzehnjährige Schülerin den Sieg der kommunistischen Roten Khmer am 17.April 1975 erlebte: „Es war uns völlig egal, wer gewonnen hatte.“

Privatbesitz als Symbol der verderbten Vergangenheit

Schlimmer als unter dem korrupten und unfähigen Regime des besiegten Generals Lon Nol, dachte das Mädchen wie viele Kambodschaner, würde es nicht mehr kommen können. Nach Jahren des Bürgerkrieges sehnten sie sich verzweifelt nach Frieden.

Doch die Erleichterung verwandelte sich binnen weniger Stunden in schieres Entsetzen: Die Soldaten zwangen alle Bewohner, in endlosen Trecks die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Vor dem Eisengitter der französischen Botschaft drängten sich verzweifelte Flüchtlinge, die den Siegern zu entkommen hofften. Familien wurden für immer auseinander gerissen, der Exodus forderte Tausende von Toten.

Am kommenden Montag jährt sich dieser schreckliche Tag zum 25. Mal. Offizielle Gedenkfeiern wird es in Phnom Penh nicht geben, denn die Vergangenheit ist für die Kambodschaner ein heikles Thema. Inzwischen sitzen wieder viele ehemalige Rote Khmer in der Regierung und in der Armee.

Mit dem Einmarsch der Roten Khmer in der Hauptstadt vor 25 Jahren hatte ein grausames Kapitel in der kambodschanischen Geschichte begonnen: In den folgenden knapp vier Jahren ihres Regimes starben etwa 1,5 Millionen Kambodschaner an Erschöpfung, Hunger und Krankheiten. Weitere 200.000 wurden hingerichtet. Insgesamt kam ein Fünftel der Bevölkerung um. Millionen wurden zu Flüchtlingen. Innerhalb kürzester Zeit zerstörten die Roten Khmer, die Meister der kambodschanischen „Killing Fields“, das soziale und kulturelle Gefüge ihres Landes.

Zu den Besonderheiten des neuen Regimes zählte die kafkaeske Geheimniskrämerei seiner Führer: Anders als in Russland oder China gab es in Kambodscha keine Figur, die – wie Stalin oder Mao – weithin bekannt war. Lange nach der Machtübernahme wusste niemand, wer die neuen Herren überhaupt waren.

So blieb zunächst im Dunkeln, dass der später unter dem Namen Pol Pot bekannte Saloth Sar ein Lehrer war, der wie die meisten seiner engsten Mitarbeiter in Frankreich zum Marxismus gekommen war. Der Name „Rote Khmer“ war damals nicht verbreitet, er ist eine Erfindung des heutigen Königs Sihanouk.

Wenn die Soldaten oder Funktionäre „Verräter“ und „Agenten“ liquidierten, beriefen sie sich auf den Befehl einer ebenso unsichtbaren wie allgegenwärtigen „Organisation“ (auf kambodschanisch: „Angkar“ oder „Angka“). Diese Staatsgewalt hatte „so viele Augen wie die Ananas“, sagten die Leute. Sie sorgte dafür, dass Kinder ihre Eltern bespitzelten oder gar töteten und ließ Menschen über Nacht verschwinden.

Im Namen der „Angkar“ verkündeten die stets schwarz gekleideten Kader, die Ära eines neuen Kampuchea sei angebrochen: Nicht mehr die dekadenten Städter, die zum „neuen Volk“ gezählt wurden, sondern das „alte Volk“ (oder „Basisvolk“) sollte fortan das Schicksal der Nation bestimmen. Wissen, Privatbesitz, Geld oder bunte Kleidung wurden zum Symbol einer verderbten Vergangenheit. Schulen, Tempel und Geschäfte mussten schließen.

Noch heute stehen an der Fernstraße von Phnom Penh nach Battambang die damals geschaffenen Siedlungen, in denen die Familien getrennt wurden, weil Kinder, Frauen und Männer nicht mehr zusammen leben und essen durften.

Um ein Reich ähnlich des riesigen Angkor-Reiches vor über tausend Jahren zu errichten, verlangten die Kader absoluten Gehorsam und unablässige körperliche Arbeit. Zu den nationalen Zielen zählten die Roten Khmer auch die Rückeroberung kambodschanischen Territoriums, das in den Jahrhunderten zuvor unter vietnamesische Herrschaft geraten war.

Nach wiederholten Kämpfen an der Grenze marschierten die Vietnamesen Ende 1978 ein. Als sie am 7. Januar 1979 in Phnom Penh eintrafen, fanden sie eine Geisterstadt vor: Auf den Straßen war kein Mensch und kein Tier zu sehen. Pol Pot und die Parteiführung waren zusammen mit ihren Leibwächtern und Familien in den Dschungel im Westen des Landes geflüchtet.

Phnom Penh hatte dem diktatorischen Regime zwar als Hauptstadt gedient, aber in der einstigen Millionenmetropole lebten nach der Vertreibung seiner Bewohner nicht mehr als 50.000 Menschen: Beamte der Ministerien, unter anderem des in „B 1-Lager“ umgetauften Außenministeriums, Soldaten, einige Fabrikarbeiter, die Wachen des zentralen Foltergefängnisses Tuol Sleng.

Auf öffentlichen Plätzen waren Bananenstauden gepflanzt, in den Straßen rosteten Autos, Kühlschränke und Fernsehgeräte. Alte Banknoten moderten in den Müllhaufen.

Bis auf das als Museum erhaltene Tuol-Sleng-Vernichtungslager, einer ehemaligen Mittelschule, sind in Phnom Penh heute kaum Spuren des Völkermordregimes zu finden. Doch die Roten Khmer hinterließen eine Gesellschaft, die schwer traumatisiert ist, weil zu viele Menschen beim Überlebenskampf ihre moralische Stütze verloren haben.

Geblieben ist eine Kultur der Straflosigkeit und Rache

Geblieben ist ein Land, in dem der Stärkere siegt, in dem eine Kultur der Straflosigkeit und der Rache herrscht und in dem die Hoffnung auf Gerechtigkeit zum unerreichbaren Luxus geworden ist – ein moralisches Trümmerfeld.

Wie tief sich der Schrecken in die Seelen der Bevölkerung eingegraben hat, zeigte sich an einem Sommertag 1997, als Phnom Penh von einer absichtlich ausgelösten Munitionsexplosion auf einem Militärgelände erschüttert wurde: Ärzte und Schwestern wandten sich von den Kranken ab, Lehrerinnen schickten die Kinder nach Hause, bevor sie selbst aus dem Klassenzimmer rannten. Innerhalb weniger Minuten waren die Märkte menschenleer.

Ein Parlamentsabgeordneter: „In dem Moment hat mein Verstand ausgesetzt, ich habe nichts mehr gedacht, ich wusste nur eins: Ich durfte nicht, wie vor 25 Jahren beim Einmarsch der Roten Khmer, noch einmal meine Familie verlieren.“