Born to be gaga

■ Die Leningrad Cowboys rockten im Aladin wie Kuhknaben aus Stalingrad und rülpsten wie junge Götter

Die Leningrad Cowboys sind schuld am Ozonloch. 10 Dosen Haarspray pro Tolle mal 9 Tollen, das machte 90 Dosen pro Auftritt, oder hochgerechnet 50 Quadratkilometer Ozonloch pro Jahr. Heute natürlich nicht mehr, weil Thunfisch biologisch angebaut wird.

Auch sonst sind die Cowboys mittlerweile total p.c., denn sie machen Weltmusik. Sie kommen aus Finnland, geben sich als Russen aus und behaupten trotzdem – je nach Laune – aus Brooklyn oder Cleveland zu sein. Und dass mir jetzt keiner mit Inkohärenzvorwürfen kommt! „Terzo Mondo“ heißt die Tour und die neue LP, die darauf versammelten Stücke sind Ländern oder Landstrichen zugeordnet; „Lumberjack Lady“ ist z.B. eine sibirische Volksweise, „Nolo Tengo“ ein mexikanischer Gassenhauer. Oder so. Im Zuge der intensiven Auseinandersetzung mit feministischen Konzepten wurde das Ensemble um die zwei singenden Go-Go-Girls Tiina und Mari sowie um Ms Galina Gulakova, Generälin der Roten Armee, erweitert. Aber jetzt: PARTY!

Mit fast einer Stunde Verspätung und Kippen im Hals stürmen die Cowboys die Bühne, verpassen ihren Einsatz und zeigen sich gegenseitig den Stinkefinger. Gemessen an den „Sleepy Sleepers“-Bad Taste-Exzessen der siebziger Jahre (so hieß die Band damals) fast eine Geste von anrührender Schönheit. Ebenso hinreißend die obligatorischen buntgestreiften Anzüge, die rotgerahmten Sonnenbrillen und das liebevoll gestaltete Bühnenbild (Drummer Twist-Twist Erkinharju sitzt in einem Trecker mit Safari-Finish und Gummibaum). Beim zweiten Stück kommen auch die Go-Go-Girls dazu, ohne Tolle, aber mit Marge-Simpson-Turmfrisur. „We cum (sic!) from Brooklyn and we are looking for a husband“, sagen sie mit russischem Akzent. „So, good-looking men should line up in front of the backstage door after the show.“ – „I'll be the first in the row, baby“ mag sich da so mancher Aladin-Besucher insgeheim gedacht haben. Der Autor übrigens auch.

Spätestens nach drei Songs merkt selbst der Laie, dass Kääpä, Järvenpää, Seppälä und Co. ihre Instrumente respektive Stimmbänder richtig gut beherrschen. Gespielt wird eine druckvoll vorgetragene Mischung aus Punk und Rock'n'Roll, aufgelockert mit 60s-Pop und allerlei „weltmusikalischen“ Einflüssen. Ein Meister der Völkerverständigung sowie der Stimmmodulation ist jedoch „Mister Pizza“ aka „Mister Djingle“. Er trägt einen über und über mit Glöckchen bestückten Schlafanzug und rülpst wie ein junger Gott. Hüpfend und aufstoßend intoniert er „Djingle Bells“ (na klar, mit russischem Akzent) und verleiht nebenbei der Kommunikation zwischen Band und Publikum eine neue Dimension: „When I say MOTHERFUCKERS!, you say FUCK YOU!“ – was auf Anhieb gelingt. Und irgendwann tritt einer der Cowboys (welcher es ist, ist schwer auszumachen – die sehen ja alle gleich aus, die Russen) im Elvis-Kostüm mit verchromter Radkappe vor dem Gemächt auf, um ganzkörpertremolierend „Love Me Tender“ und „Viva Las Vegas“ zu wimmern.

Mit dem Auftritt von Ms Galina Gulakova schlägt die Stunde des Publikums. Obwohl die anderen Texte auch nicht sonderlich kom-plex sind – irgendwas mit Whisky und Rock'n'Roll – geht das Mitsingen bei Refrainzeilen wie „La-lala-la-la-lala-lalaaa“ doch noch etwas leichter von der Zunge. Frau Genossin General singt mit todernster, herrischer Miene ihren „Real Russian Iron Rock“. Das auch nach Songende weitergrölende Publikum weist Sänger Tipe Johnson mit einem nicht minder herrischen „Shut up!“ in seine Schranken. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder sänge, was er wollte?

Ein weiteres Stück der neuen LP, die Reggaehymne „Happy Being Miserable“, wird von „Mister Great Masterloser“ vorgetragen, der sich mittels über den Kopf gelegter Handtücher in einen Rastafari verwandelt. Ebenfalls ohne erkennbaren Kausalzwang fuchteln die Leningrad Ladies bei verschiedenen Stücken mit Besen, Küchenrollen und Gummiäxten herum.

Dass ein dermaßen angeheiztes Publikum die Künstler nicht ohne Zugabe verschwinden lässt, ist selbstverständlich. Die Cowboys spielen deshalb gleich sechs davon: „Kalinka“, „Enter Sandman“, „You Gotta Fight For Your Right (To Party)“, des russische Ding wo des Pub-likum imma gsunge hett, „Born To Be Wild“ und „Those Were The Days“. Dabei kommt noch einmal die volle Instrumentierung zum Einsatz: zwei Drumsets, drei Gitarren, Bass, Trompete, Saxophon, Horn, Keyboards, Akkordeon, Pauke. Atemlos bittet Sänger Johnson noch ein letztes Mal um Aufmerksamkeit: „Before we go, one important announcement from the band to you ... MOTHERFU-CKERS!!“ – „FUCK YOU!!“

Tim Ingold