Blasen voll flüssigem Samt

Wahre Lokale (15): Das unverschämt ferkelige „Brazen Head“ im irischen Dublin

Verdammt, es ist Samstag. Im Hinterzimmer des „Brazen Head“ spielt die Hausband, und sie ist laut. Die „Brazen Hussies“ sind eine Art Folk-Skiffle-Gruppe, in ihren Lieder preisen sie die Rebellen und den Alkohol, und weil die Band beliebt ist, muss man sich den Weg an die Theke Zentimeter um Zentimeter erkämpfen. Mick ist jeden Samstag da, aber immer rechtzeitig, so dass er noch einen Platz am Tresen bekommt. Der Nachschub ist dadurch gesichert.

Wie bewältigt er, blasentechnisch gesehen, die Unmengen Guinness, die er in sich hineinschüttet? „Ich pinkle an die Theke“, behauptet er, „das merkt bei dem Gedränge kein Mensch.“ Ob das wahr ist, weiß man nicht, Mick neigt zum Flunkern. Ich beobachte ihn den ganzen Abend, er vertilgt ein Pint nach dem anderen, jenes magische Maß von 0,56 Liter, das zumindest in den Pubs den Dezimalisierungsversuchen widerstanden hat, aber er geht nicht auf die Toilette.

Früher lagen Sägespäne auf dem Boden, nicht wegen der Entsorgung der Getränke, sondern um die Spucke und das verschüttete Bier aufzusaugen. Es gab keinen Strom, und die Männer tranken Guinness aus Flaschen. Auch heute noch schwört manch alter Mann, vor allem auf dem Lande, auf Flaschen-Guinness, weil es „flüssiger“ sei als der samtene Pint vom Hahn und angeblich leichter durch die Kehle rinnt.

Das „Brazen Head“ in der Bridge Street am Fluss Liffey ist die älteste Kneipe Irlands, wenn nicht sogar Europas, wenn die Werbung stimmt. Hier wurden schon vor 800 Jahren Getränke ausgeschenkt, lange bevor man dafür eine Lizenz benötigte, das war ab 1635. Das jetzige Gebäude ist freilich jünger, es stammt aus dem Jahr 1700 und war mal Halteplatz für die Pferdekutsche. Das Haus kommt einem windschief vor, wenn man den Innenhof betritt, und das ist es auch, seit ein britisches Kanonenboot während des Osteraufstands 1916 das Gerichtsgebäude auf der anderen Seite der Liffey beschoss und das „Brazen Head“ von der Wucht der Explosion in seinen Grundfesten erschüttert wurde.

Woher der Name der Kneipe stammt, weiß niemand genau, was allerdings kein Hinderungsgrund für eine Erklärung ist: „Brazen“ bedeutet etwa „unverschämt“, und das bezog sich auf ein rothaariges Mädchen, das bei der Belagerung von Limerick im 17. Jahrhundert den Kopf zu weit herausgestreckt hatte, um das Geschehen besser verfolgen zu können. Sie soll von den Soldaten Wilhelms von Oranien geköpft worden sein. Die Entstehung des Kneipennamens ist jedenfalls allemal interessanter, als wenn das Lokal „Gasthof zur Post“ heißen würde.

Im Innenhof stehen ein paar Lampen mit eingebauter Gasheizung, damit trotz des irischen Klimas Sommergefühle aufkommen. Über dem Eingang weist ein Schild auf das „Brazen Head Hotel“ hin, aber Gäste beherbergt es schon lange nicht mehr. Ein John Langan übernachtete hier am 7. August 1726 und verewigte sich in der Fensterscheibe des Treppenhauses, in die er Namen und Datum einkratzte.

Prominente Rebellen gingen im „Brazen Head“ ein und aus, wie Theobald Wolfe Tone, der 1798 einen erfolglosen Aufstand anführte und sich in der Haft das Leben nahm. Sein Kampfgenosse Oliver Bond hatte sich mit einem Thomas Reynolds angefeindet und ihn regelmäßig im „Brazen Head“ getroffen, doch Reynolds war ein Verräter, und bevor der Aufstand begann, wurden die meisten Anführer in Bonds Haus keine 50 Meter vom Pub entfernt verhaftet.

Auch Robert Emmet hatte im „Brazen Head“ gewohnt, bevor er 1803 eine Rebellion gegen die englische Herrschaft anzettelte und hingerichtet wurde. Sein Schreibtisch steht noch immer im Obergeschoss. Im kleinen Schankraum, in dem ein Kronleuchter schummriges Licht wirft, hängt ein altes Plakat zum 100. Jahrestag des Aufstandes.

Selbst der Henker, der die schlimmsten Schurken ins Jenseits befördert hat, verkehrte im „Brazen Head“. Er hatte sogar sein eigenes Glas, denn die Kneipe war wie ein zweites Wohnzimmer für ihn. Als der Henker starb, und zwar, im Gegensatz zu seinen bedauerlichen Opfern, eines natürlichen Todes, da wurde sein Glas weiter benutzt, denn jeder wollte mal aus des „hangman’s glass“ trinken.

Im ersten Stock des „Brazen Head“ ist heutzutage ein Restaurant untergebracht, doch darüber wollen wir den gnädigen Mantel des Schweigens breiten, denn eine Kneipe, so sagt der Belfaster Schriftsteller und Hooligan John McGuffin, ist nun mal zum Saufen da.

Und das ist nicht nur Männersache. Irinnen waren dem Alkohol nie abgeneigt, wenn man einem Fynos Moryson glauben kann, der um 1600 schrieb: „Ich habe selbst gesehen und von anderen oft gehört, dass Damen so frei in diesen Ausschweifungen waren, dass sie auf den Knien lagen und einen Trunk nach dem anderen mit den Männern stürzten, gar nicht zu sprechen von den Frauen der irischen Lords, die trinken, bis sie betrunken sind oder wenigstens, bis sie in Anwesenheit der Männer ihre Blase erleichtern. Ich komme nicht umhin zu bemerken, dass irische Frauen die einzigen sind, die dieser Unsitte nachgehen, die ich noch nirgendwo beobachtet habe außer in Böhmen.“ Pinkeln am Tresen? Ist Mick gar kein Ferkel, sondern pflegt lediglich einen alten Brauch? RALF SOTSCHECK