schwarze taz
: Ed McBain und seine Kriminalchronik des 20. Jahrhunderts

DIE MYSTERIEN VON ISOLA

Vor langer Zeit, in den 30er- und 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts, war es ziemlich uncool, Polizisten als Helden einzusetzen. Damals wurde der Privatdetektiv als einsamer Ritter erfunden, der gegen die Windmühlen der Korruption und das allgegenwärtige Verbrechen kämpfte. Die Polizei war der verlängerte Arm des Verbrechens, der Staat verlottert, übrig blieb nur die Eigeninitiative des individualistischen Moralisten. Die Gegenwart eines Mannes wie Philip Marlowe, so schrieb Raymond Chandler, machte diese Welt bewohnbarer.

Das war eine schöne Fiktion. Dann kam der Krieg, man rückte zusammen. Heimkehrende Soldaten wurden zu Helden gemacht, die dem Staat ein sauberes Image gaben. Nachdem die Bürger in den Fünfzigern wieder Vertrauen zu staatlichen Institutionen gefasst hatten, schlug sich das auch im Krimigenre nieder. Die Zeit des Polizeiromans begann.

Und den hat der 1926 im italienischen Teil von Harlem geborene Salvatore Lombino erfunden. Der Autor gab sich, weil er nicht Italiener, sondern Amerikaner sein wollte, das allamerikanische Pseudonym Ed McBain. Unter diesem Namen revolutionierte er das Genre. Er erfand den kollektiven Helden, das 87. Polizeirevier. Die ersten drei Bücher erschienen 1956. Ende 1999 konnte McBain das Erscheinen seines 50. Romans um die Männer vom 87. feiern.

Im New Yorker hat man kürzlich seine Serie mit der „Comédie humaine“ von Balzac und den „Mystères de Paris“ von Eugène Sue verglichen. Tatsächlich hat McBain eine Kriminalchronik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffen. Zwar handeln die Geschichten alle von einer fiktiven Großstadt namens Isola, aber die trägt natürlich eindeutige Züge von New York. McBain ist ein nüchterner Erzähler, der sich nicht zu Mystifizierungen hinreißen lässt. Seine Polizisten sind ganz normale Menschen mit ganz normalen Lebensentwürfen, Problemen und auch unsympathischen Charakterzügen. Seit fünfzig Büchern werden die Biografien von Steve Carella, Bert Kling, Meyer Meyer, Cotton Hawes und Artie Brown fortgeschrieben, in kleinen Häppchen auf die Bücher verteilt, ohne den Spannungsfluss zu stören. Das verschafft dem Autor viel Platz, die Milieus zu schildern, in denen die Verbrechen stattfinden.

Wer nur ein Buch liest, könnte den Eindruck haben, dass die Polizisten nur leere Charakterhüllen darstellen. Das täuscht. Von McBain muss man viel lesen, um sein erzählerisches Geheimnis zu ergründen. Man kann auch viel von ihm lesen. Weil er einen Schreibstil pflegt, der dem Leser entgegenkommt: Kurze Situationsbeschreibungen, knappe Charakterisierungen, der Rest ergibt sich durch Handlung und Dialog. McBain ist ein Dialogkünstler erster Ordnung. Die menschliche Komödie und die Mysterien von Isola/New York enthüllen sich im vielstimmigen Raunen von Jägern, Gejagten, Betrachtern und Passanten.

Wieder ist ein neuer McBain auf Deutsch erschienen. Dazu nur so viel: In „Long Dark Night“, dem 48. Roman der Serie, geht es nicht bloß um zwei (nicht zusammenhängende) sehr traurige Morde an einer alten Pianistin und einer jungen Prostituierten. Es geht auch um Täter, die kaum merken, wie sie die unsichtbare Grenze überschreiten und Schuld auf sich laden. Es geht um schicksalhafte Verstrickungen mit tödlichen Konsequenzen, die jeden treffen können. Es geht darum, dass es keine Sicherheit gibt. Die Decke der Zivilisation ist brüchig. McBain weist das nach. Mit grimmigem Humor. ROBERT BRACK

Ed McBain: „Long Dark Night“. Aus dem Amerikanischen von Uwe Anton. Europa Verlag, 352 Seiten, 32,50 DM