Distanzierte oder Rebellen

Annabelle Lutz hat eine hervorragende Studie vorgelegt, die Dissidenten-generationen in der CSSR und der DDR vor 1989 vergleicht

Unterschiede zwischen den Oppositionsbewegungen in der DDR, Ungarn, Polen und der CSSR waren zwar schon vor 1989 deutlich sichtbar, sie sind jedoch bis heute heftig umstritten. Nur wenige Analysen haben bislang die Gründe für diese Unterschiede nachzuzeichnen versucht. Annabelle Lutz zeigt mit ihrem Vergleich von Oppositionsgenerationen aus der CSSR und der DDR der 70er- und 80er-Jahre, welchen produktiven Zugang zur Frage eine Generationenanalyse bieten kann. Ihre Widerstands- und Oppositionsbiografien beschreiben die Dissidenten selbst unter Bezugnahme auf kollektive Erlebnisse.

Für die „Besatzungskinder‘‘, noch unter nationalsozialistischer Herrschaft aufgewachsenen, hatten etwa die tschechische und slowakische Kultur sowie die eigene Verantwortung für die Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Der „Prager Frühling“ und seine Niederschlagung wurden für sie ein zentrales Erlebnis, das auch ihre weitere Opposition bestimmte. Für die nach dem Krieg geborenen „Kinder des Prager Frühlings“ hingegen galt zwar das zentrale Ereignis „Prager Frühling“ ebenfalls, ihr Verhältnis zu Opposition und Widerstand ergab sich jedoch schon stärker in Verantwortung gegenüber den Freunden aus dem „Prager Frühling“ selbst. Für diese beiden ersten Generationen der CSSR-Opposition wurde die Charta 77 zum gemeinsamen Dach. Die erst am Ende der 60er-Jahre geborenen „Normalisierungskinder“ dagegen sahen die CSSR als gegeben an, ihre Verpflichtung sahen sie primär gegenüber den Freunden aus der Subkultur. Sie lebten teilweise einen offenen Konflikt mit den beiden älteren Oppositionsgenerationen.

Das Verhältnis zu Opposition und Widerstand lässt sich bei den Oppositionellen der DDR in den 70er- und 80er-Jahren dagegen nicht entlang der Zugehörigkeit zu Generationen differenzieren. Zwar lassen sich auch hier entlang von Alterskohorten Oppositionsgenerationen (Kriegskinder, Aufbaukinder, Mauerkinder) unterscheiden, die Motive für Widerstand und Opposition variieren hier jedoch auch innerhalb der Generationen „durch das unterschiedliche Verhältnis zur DDR“. DDR-Oppositionelle beschreiben ihren Widerstand im Unterschied zu Oppositionellen aus der CSSR eher individuell. Quer zur Generationenlagerung erkennt Annabelle Lutz hier „Distanzierte“ und „Rebellen“.

Sind die „Distanzierten“ meist in einem der DDR-kritischen Elternhaus aufgewachsen und geraten deshalb auch in Widerspruch, so sind die „Rebellen“ oft in einem systemtreuen Elternhaus aufgewachsen und reiben sich am Widerspruch von Idee und Wirklichkeit des Sozialismus. Der Idee des Sozialismus bleiben sie dabei treu, nicht der DDR. Von der „Kriegsgeneration“ zur „Mauergeneration“ nimmt die Bedeutung der Nation als Widerstandsmotiv ab. Annabelle Lutz’ Studie bestätigt die Ergebnisse eines Vergleichs, den Helena Flam (Uni Leipzig) zwischen polnischen und ostdeutschen Oppositionellen angestellt hat.

Es gibt bislang nur wenige Arbeiten zur DDR-Opposition, die so präzise deren Defizite benennen. Annabelle Lutz wird sich mit dieser fantastischen Arbeit sicher nicht viele Freunde im Dissidentenmilieu machen. Lesern, die kritische Reflexion schätzen, ist das Buch unbedingt zu empfehlen. MARTIN JANDER

Annabelle Lutz: „Dissidenten und Bürgerbewegung“. Frankfurt 1999, Campus, 182 S., 68 DM