Bittersüße Feierlichkeiten

Vor einem Vierteljahrhundert besiegelte der Einmarsch des Vietcong in Saigon die verheerende Niederlage der US-Amerikaner in Vietnam. Der herrschenden Kommunistischen Partei kommt das Datum gerade recht, ihr Regime zu festigen. Doch können die Feierlichkeiten die komplizierte Situation des Landes nicht übertünchen
von JUTTA LIETSCH

Als im März der amerikanische Verteidigungsminister William Cohen auf jenem Reisfeld südwestlich von Hanoi steht, auf dem Experten nach den Überresten eines 1967 abgeschossenen US-Piloten suchen, scheint der Krieg auf absurde Weise gleichzeitig nah und fern: Er habe, sagt Cohen, der als erster US-Verteidigungsminister seit 1971 das Land bereist, bei seinen vietnamesischen Gesprächspartnern in Regierung und Armee „keinerlei psychologische Vorbehalte“gespürt.

Das ist erstaunlich. Zwar ist es schon ein Vierteljahrhundert her, seitdem die vietnamesischen Kommunisten Provinz um Provinz und Stadt um Stadt eroberten, bis ihre Panzer schließlich am 30. April 1975 den Zaun des Präsidentenpalastes in Saigon niederwalzten. Jahrzehnte des Krieges mit drei Millionen Toten waren zu Ende, der erste Schritt zur Wiedervereinigung des seit 1954 geteilten Landes getan.

Aber für die vietnamesische KP ist der „amerikanische Krieg“ allgegenwärtig, sie nutzt den Jahrestag, um die Verbundenheit zwischen Partei und Volk zu beschwören. Die drögen Parteiblätter sind in diesen Tagen gespickt mit Berichten wie aus Phu Yen, einer Provinzstadt im Süden des Landes: „Das Parteikomitee, der Volksrat und die Vaterländische Front der Provinz Phu Yen haben am 1. April auf dem Le-Duan-Platz feierlich des 25. Jahrestages der Befreiung der Provinz gedacht. Herr Nguyen Tan Quang, ständiges Mitglied des Parteikomitees der Provinz und Vorsitzender des Volksrates, gedachte in einer Rede des entschlossenen und tapferen Kampfes des Parteikomitees und des Volkes der Provinz Phu Yen im antiamerikanischen Kampf für die Befreiung des Südens und für die Vereinigung des Landes“, meldet die Parteizeitung Nhan Dan am 1. April dieses Jahres.

Kein Tag vergeht ohne Berichte darüber, wie die Veteranen in der alten Kaiserstadt Hue oder einem anderen Ort Kränze niedergelegt und Räucherstäbchen zu Ehren der Toten in den Tempeln angezündet haben. Überall halten lachende Schulkinder das Porträt des 1969 verstorbenen Parteigründers Ho Chi Minh in die Höhe.

Die Gedenkveranstaltungen, das ist unübersehbar, bieten der fast siebzigjährigen KP und ihren meist ebenso alten Führern die dringend benötigte Gelegenheit, sich selbst zu feiern. Für die alten Soldaten und Soldatinnen, Veteranen des Kampfes gegen die Amerikaner und ihre kapitalistischen Verbündeten in Südvietnam, sind diese Zeremonien jedoch allenfalls bittersüß: Sie erinnern an die Trauer über die Toten, die Freude über das Kriegsende und zugleich an das mühsame Leben danach, an die winzigen Renten, die zu viel zum Sterben und zum Leben zu wenig sind.

Aber für viele junge Vietnamesen, die sich seit ihrer Kindheit die Schreckens- und die Heldengeschichten ihrer Eltern anhören mussten, ist die Flut der Zeitungsartikel und Radioberichte über die glorreiche Befreiung nur ein weiterer Grund, sich gelangweilt abzuwenden. Denn der Ruf der Partei, die das Land bis heute fest im Griff hält, ist schlecht. Er ist so miserabel, dass Parteichef Le Ka Phieu Ende letzten Jahres Alarm schlug: „Wenn wir uns nicht ernsthaft anstrengen“, warnte er in der Parteizeitung, „dann setzen wir die Regierung, unsere Unabhängigkeit und die Nation aufs Spiel.“

Grund für diese klaren Worte ist die Erkenntnis, dass der Unmut längst nicht mehr nur unter den üblichen Verdächtigen – Intellektuelle, Mönche, Katholiken oder andere unzuverlässige Gruppen – gärt. Auch die klassische Basis der KP, die Bauern und Arbeiter, sind unzufrieden. Zermürbt von der allgegenwärtigen Korruption und Kaderwillkür sind in den letzten Jahren immer wieder Bauern gegen lokale Parteizentralen losgezogen. Die Wut über Beamte, die sich an Pensionsfonds, Schulgeldern oder Klinikkassen vergriffen, und der Zorn über die Enteignung von Kirchenland versetzte ganze Distrikte in Aufruhr.

Als selbst die Veteranenverbände, die traditionell zu den loyalsten Stützen der Partei gehören, Verständnis für die Proteste zeigten, wuchs die Furcht in Hanoi, dass sich eine organisiertere Oppositionsbewegung entwickeln könnte.

Um den Leuten Gelegenheit zu geben, Dampf abzulassen, griffen die Parteiführer im vergangenen Sommer in die Mottenkiste des politischen Repertoires: Sie starteten eine – sinnigerweise auf zwei Jahre beschränkte – Kampagne der „Selbstkritik“: Im Radio und auf Postern, die überall in den Straßen ausgehängt sind, gestanden Parteimitglieder „Fehler“ ein und forderten ihre Landsleute zu offener Kritik auf.

Viele Vietnamesen bleiben skeptisch: Sie erinnern sich gut daran, wie eine ähnliche, von Parteigründer Ho Chi Minh vor knapp dreißig Jahren ausgerufene Kampagne endete: mit neuen Repressionsmaßnahmen gegen Dissidenten, die so unklug gewesen waren, sich zu offenbaren. Für einen der prominentesten Kritiker der Regierung, General Tran Do, ging es noch relativ glimpflich ab. Er hatte seinen Parteigenossen vorgeworfen, sich auf dem Rücken verarmter Bauern zu bereichern. Eine kleine Gruppe versteinerter KP-Führer halte das Land in wirtschaftlicher Rückständigkeit. Für sein dramatisches Manifest, in dem er politische Reformen forderte, blühte ihm als verdientem Revolutionär und hochrangigem Parteimitglied nur Hausarrest.

Um zu zeigen, dass die Regierung es ernst meint mit dem Kampf gegen die Korruption, ließ sie inzwischen mehrere hochrangige Kader vor Gericht bringen und zum Tode verurteilen. Im vergangenen Herbst gerieten sogar ein Vizepremierminister und ein ehemaliger Chef der Zentralbank wegen Bestechlichkeit und Unfähigkeit ins Visier: In einer Erklärung, die über das Fernsehen verbreitet wurde, hieß es, dass beide förmlich „verwarnt“ worden seien. Politisch bewegt sich dennoch wenig: Es gäbe derzeit viele Anzeichen dafür, heißt es in Hanoi, dass sich der Sicherheitsapparat und das Militär wieder gegenüber moderateren Kräften in der Partei durchgesetzt habe.

Die „Selbstkritikkampagne“ hat allerdings keineswegs dazu geführt, dass die Regierung die Kontrolle über die Medien des Landes lockerte. Seit der Herausgeber der Wirtschaftszeitung Unternehmen 1997 inhaftiert wurde, weil sein Blatt in mehreren Artikeln ungewöhnlich detailreich über Machenschaften der Zollbehörden und Bestechung beim Kauf von Patrouillenbooten geschrieben hatte, sind die vietnamesischen Journalisten noch vorsichtiger als sonst. Besorgt über die wachsende Beliebtheit des Internet in Vietnam, hat die Regierung inzwischen scharfe Kontrollen angekündigt. „Feindliche Kräfte im Ausland“ missbrauchten das Internet, um Dokumente mit schlimmen und reaktionären Inhalten zu verbreiten, klagte die Polizei.

Längst ist auch der Traum, in die Reihe der wirtschaftlichen Tiger Asiens aufzurücken, verblasst: Stattdessen veröffentlichten vietnamesische Zeitungen erst vor wenigen Tagen böse Zahlen. Allein im ersten Quartal dieses Jahres ist der Wert von geplanten ausländischen Investitionen um fast 75 Prozent im Vergleich zum Zeitraum im Vorjahr gesunken – auf magere 88,5 Millionen Dollar.

Schon 1999 war der Umfang aller angemeldeten ausländischen Investitionen dramatisch geschrumpft, von 4,04 Milliarden Dollar im Jahr zuvor auf nur 1,48 Milliarden. Wie die halbamtliche Vietnam Investment Review berichtet, liegen die meisten der geplanten neuen Projekte im Erdölsektor.

Als die amerikanische Regierung unter Präsident Bill Clinton Anfang der Neunzigerjahre das Handelsembargo aufhob und erstmals seit 1975 wieder einen Botschafter nach Vietnam schickte, hatten viele Bewohner auf das Ende der mageren Zeiten gehofft: Von nun an würden, glaubten sie, die Investoren aus dem ehemaligen Feindesland herbeiströmen, der amerikanische Markt sich für Textilien und Spielwaren, Kautschuk und Kaffee aus Vietnam öffnen.

Doch diese Erwartung war verfrüht. Ein geplantes Handelsabkommen zwischen beiden Ländern liegt auf Eis. Die Vietnamesen hatten sich von diesem Vertrag einen Zuwachs ihrer Exporte in die USA im Wert von rund achthundert Millionen Dollar im Jahr erhofft.

Anfang der Neunzigerjahre waren vor allem Unternehmer aus Südkorea, Taiwan, Hongkong und Japan nach Vietnam geeilt und hatten ihre Textil- und Spielzeugfabriken in den neuen Industriezonen gebaut. Doch als die Asienkrise 1997 ausbrach, zogen sich viele von ihnen zurück, um ihre Mutterfirmen in der Heimat zu sanieren.

Zurück blieben leere Bürohochhäuser und Werkhallen, die in der Zeit des Booms geplant worden waren. Im besten Jahr, 1996, hatte das Wirtschaftswachstum zehn Prozent erreicht. Mittlerweile können die Wirtschaftspolitiker in Hanoi jedoch nicht mehr die Augen davor verschließen, dass die Asienkrise das Ende des Booms beschleunigt hat, aber viele Probleme hausgemacht sind: Dazu gehören vor allem die undurchdringliche Bürokratie, gnadenlose Bereicherung und unberechenbare Entscheidungen der Behörden. Faire und unabhängige Gerichte, die Streitigkeiten zwischen vietnamesischen und ausländischen Partnern regeln könnten, sind Mangelware. Firmenvertreter aus Japan, Deutschland oder den USA, die früher gern „Fleiß, Ausdauer und Bescheidenheit“ vietnamesischer Arbeitskräfte lobten, haben entnervt ihre Koffer gepackt. In Thailand oder auf den Philippinen ist die Arbeit leichter.

Mit Schaudern erinnern sich ausländische Kaufleute zum Beispiel noch an die „Kampagne gegen die sozialen Übel“ des Jahres 1996: Damals mussten viele Firmen von einem Tag auf den anderen Reklametafeln und Neonschilder abbauen. Denn die Behörden hatten beschlossen, dass englischsprachige Werbung für ihre Untertanen zu dekadent sei. Nichts deutet derzeit darauf hin, dass solche Kampagnen bald der Vergangenheit angehören.

JUTTA LIETSCH, 47, ist Südostasien-Korrespondentin der taz und lebt in Bangkok