FÜR DEN AUFBAU OST BRAUCHEN WIR EINEN NEUEN SOLIDARPAKT
: Zahlen und streicheln

Zunächst: ein Dankeschön. Von ganzem Herzen! Danke, ihr Schwestern und Brüder im Westen, dass ihr uns den Aufbau Ost finanziert. Jede vierte Haushaltsmark in Neufünfland kommt heute aus dem Solidarpakt. Also im Wesentlichen von euch. Der Osten wäre ohne diese Solidarität weder zahlungs- noch handlungsfähig. Die renommiertesten deutschen Wirtschaftsinstitute haben ermittelt: Wir liegen hier eine Billiarde Mark hinter Weststandard zurück. Weil das auch in zehn Jahren nicht viel anders sein wird, bedanken wir uns im Voraus: dafür, dass ihr uns so lange aushaltet, dass ihr diese Geduld aufbringt, diese Solidarität.

Werden da Gegenstimmen laut? Protest? Beschimpfungen gar? Denen, die mein ehrliches Dankeschön akzeptieren, würde ich gern den Rest des Textes ersparen. Meine Bitte: Lesen Sie nicht weiter. Behalten Sie mich – und die überwiegende Mehrzahl meiner ostdeutschen Landsleute, die genauso fühlt – in dankbarer Erinnerung. Was folgt, ist nämlich unschön.

Seit gestern ist die Summe bekannt, die der Osten in den nächsten Jahren kosten wird. Entsetzen ist nicht unverständlich. Den Zeterern – euch, die ihr ein Ende der Solidarität, der Transfers, dieses Geld-Rausgeschmeißes an die Ossis fordert – sei gesagt: Gemach! Ihr habt es so gewollt! Euch bleibt gar nichts anderes übrig, als zu zahlen.

„Wir freuen uns auf Deutschland“, plakatierte die CDU 1990 vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Die Mehrheit der Westdeutschen freute sich mit. Dank der Kohlschen Politik trat die abgewirtschaftete Ostzone nach Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei. Auch den Westdeutschen gefiel das. Es hätte auch ganz anders kommen können. Zum Beispiel zu einer echten Wiedervereinigung. Einer Vereinigung zweier Partner, die ein neues Projekt wagen, auf der Grundlage einer neuen Verfassung. Das wolltet ihr nicht. Ja nicht am Status quo rütteln! Also sind wir beigetreten. Dankenswerterweise schreibt das Grundgesetz ausdrücklich vor, dass in seinem Geltungsbereich gleichwertige Lebensverhältnisse garantiert sein müssen. Leben wie Gott in München muss auch in Hoyerswerda möglich sein. Weil das in den nächsten zehn Jahren kaum zu erwarten ist, dürft ihr zahlen. Der Solidarpakt Ost ist Verfassungsauftrag sozusagen.

Die Verfassung ändern? Hübscher Vorschlag! Nur: „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zur D-Mark“ hieß vor zehn Jahren ein sehr populärer Spruch in der DDR. Zwar haben sich die Zuständigkeiten geändert. Das Problem ist aber dasselbe geblieben. Solange die Lebensverhältnisse im Osten den westdeutschen nicht nahezu gleichwertig sind, wandern die Jungen, die gut Ausgebildeten, aber auch Arbeits- und Perspektivlose in den Westen aus. Damit belasten sie dort Arbeitsmarkt und Sozialsysteme. Ein Transferstopp würde das Problem nicht lösen. Er würde es nur verlagern.

Wie sagte Oskar Lafontaine 1990 doch so schön: Das Schicksal der einen Gesellschaft ist das Schicksaal der anderen. Daran wird sich so lange nichts ändern, wie es im geeinten Deutschland zwei Gesellschaften gibt. Bis heute werden herbe Demütigungen über den Ostdeutschen abgekippt: Der Ossi soll endlich arbeiten lernen. Die verschwenden unser Geld. Gut geht auch immer: Wir sind selbst arm dran. Die hohe Kunst: Wenn der Ossi weiter Extremisten wählt, ist unsere Solidarität am Ende.

Das ist seelische Demontage statt Aufbau Ost. Ein bisschen Nachhilfe in Sachen Amortisation: Der Aufbau Ost beginnt in den Köpfen. Wenn ihr wollt, dass euer Geld gut angelegt ist, muss das Investitionsklima stimmen. Das bedeutet: Erst zahlen, dann streicheln – und in zehn Jahren stimmt die Rendite.

Jetzt haben Sie doch weitergelesen! Gott, ist mir das peinlich. Sie müssen mir glauben, dass mir derlei dumpfe Polemik eigentlich zuwider ist. Leider ist sie nötig, um in den nächsten Tagen und Wochen das zu schützen, was zumindest unter den Pragmatikern und Nichtideologen politischer Konsens ist: Wir brauchen diesen Solidarpakt II. Sicherlich könnte man Transfermittel auch durch eine neue Form des Länderfinanzausgleiches ersetzen. Das wäre aber nicht dasselbe. Der Solidarpakt ist nicht nur Transfersystem. Er ist ein wichtiges politisches Symbol. Ganz explizit erkennt er nämlich die Lebensleistung der Ostdeutschen an. Sie standen bloß auf der falschen Seite.

NICK REIMER