Finessen und Prinzipien

Am Wochenende tagt die Frühjahrskonferenz der Anti-Atom-Bewegten. Nicht Verbalradikalität ist gefragt, sondern eine Besinnung auf die Vielfalt des außerparlamentarischen Protestes
von WOLFGANG EHMKE

Atomkraft ist ein Auslaufmodell. In den Restbestand soll nicht eingegriffen werden: Laufzeiten von 30 Jahren, flankiert von Zugeständnissen im Entsorgungsbereich – das propagiert die grüne Partei neuerdings im Schulterschluss mit ihrem Koalitionspartner SPD. Die Karlsruher Beschlüsse dokumentieren, dass sich die Grünen zur Regierungspartei entwickelt haben. Wenn die Grünen jedoch nicht mehr Bewegungspartei, sondern Teil der politischen Klasse sind, dann verlieren die Anti-Atom-Initiativen ihren natürlichen (und einzigen) Partner im parlamentarischen Raum. Damit muss sich die außerparlamentarische Opposition auseinander setzen. Ort dafür ist die Frühjahrskonferenz der Anti-AKW-Bewegten am nächsten Wochenende in Mülheim an der Ruhr. Gejammer reicht nicht; es geht darum, sich auf die originäre Rolle zu besinnen und als „kleine radikale Minderheit“ neue Aktionsformen und neue Bündnisoptionen zu erschließen.

Ein möglicher „Bündnispartner“ ist, so paradox es klingen mag, der Gegner: die Wirtschaft – wenn auch nicht freiwillig. Die These mag im ersten Moment verstören, doch hat sie sich historisch bewährt. Denn schon lange hat die Atomindustrie erkannt, dass sich Ökonomie von Politik nicht trennen lässt – der Begriff „Investitionsklima“ bringt dies auf den Punkt. Seit den ersten Tagen der Anti-AKW-Bewegung, beginnend mit dem Widerstand gegen Wyhl 1974, war das atomare Investitionsklima in Deutschland denkbar schlecht. Der schleichende Abschied von der Atomenergie hatte schon begonnen. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich an die atomaren Wunschträume von damals erinnert. 5.000 AKWs weltweit sollte es geben, 50 Wiederaufarbeitungsanlagen (WAA) und entsprechend viele Endlager. Atomkraftwerke im Wattenmeer waren geplant und Entsorgungsparks in der Lüneburger Heide. Daraus wurde nichts. Andere Erfolge der Anti-AKW-Bewegung: die Stilllegung der WAA Wackersdorf, des Kugelhaufenreaktors in Hamm-Uentrop, des schnellen Brüters in Kalkar, der Brennelementfabriken in Hanau, der Reaktoren in Greifswald und Würgassen. Die Fachzeitschrift atomwirtschaft (7/95) hat bilanziert, dass der mangelnde Konsens in Staat und Gesellschaft allein zwischen 1988 und 1995 Investitionen in Höhe von 15 Milliarden Mark zum Scheitern gebracht hat. Weitere 11,3 Milliarden Mark stecken in Atomanlagen, die stilllagen oder nicht fertig gestellt wurden.

Um das nukleare Investitionsklima wieder zu verbessern, war es ausgerechnet die Industrie, die schon 1992/93 eine erste Runde von Atomkonsensgesprächen vorschlug. Tschernobyl saß den Atomikern immer noch im Nacken, und die ersten Castor-Transporte nach Gorleben standen an. Damals wurden die Atomkonsensgespräche unter Kohl von den Chefs von Veba und RWE angestoßen; sie waren bereit, auf die Wiederaufarbeitung und folglich auf die MOX-Produktion gänzlich zu verzichten. Auch den Ausbau des Endlagerbergwerks sowie der Pilot-Konditionierungsanlage (PKA) in Gorleben wollten sie stoppen. Nicht nur waren die angepeilten Zugeständnisse damals größer – auch der Teilnehmerkreis war umfangreicher als in den jetzigen Konsensgesprächen. So waren auch sechzehn Abgeordnete aller im Bundestag vertretenen Parteien beteiligt sowie Vertreter des DGB und der Umweltverbände (BUND, Greenpeace, IPPNW).

Die Atomkonsensgespräche scheiterten damals an den Protesten der CSU und der Bayernwerk AG, die sich als stramme Befürworter einer dauerhaften Nutzung der Atomenergie gerierten. Aber auch in der Anti-AKW-Bewegung war die Beteiligung der Umweltverbände an den Konsensbemühungen keineswegs unumstritten. Sie wurde voller Argwohn betrachtet und grenzte an „Verrat“. Pauschal wurden die Verhandlungen als „Nonsens“ abgelehnt. Hier blitzt auf, dass der Streit um die Atomkraft in allen Lagern ideologisch und symbolisch besetzt ist: So wie die einen den Kampf gegen die Atomenergie auch als emanzipatorisch („gegen das System“) begreifen, so verteidigen die Atomkraftbefürworter das „System“, selbst wenn es im Resultat ökonomisch irrationale Züge annimmt.

Auch jetzt reagier(t)en die außerparlamentarischen Initiativen unverändert ablehnend auf Konsensbemühungen, diesmal der rot-grünen Koalition. Die fundamentalistische Haltung lässt sich – heute vielleicht sogar besser als damals – begründen, doch offenbart sie auch Mängel, denn sie wird von vordergründigen Schuldzuweisungen („Verrat“) und dem Fehlen polit-ökonomischer Analyse geprägt. Prinzipienfestigkeit findet in der außerparlamentarischen Bewegung natürlich eher Beifall als taktisch-strategische Finesse. Im Ergebnis führt dies zur Erstarrung. Die Rolle von Protest und Widerstand und ihr Verhältnis zu Parteien wird nicht jeweils neu bestimmt. Strategien, die in Richtung Atomausstieg Fortschritte eröffnen, blieben und bleiben schemenhaft. Inzwischen ist die Anti-AKW-Bewegung deshalb auf das Niveau einer Anti-Castor-Bewegung herabgesunken, die selbst geringfügige Transportverzögerungen als Erfolg ansieht.

Dabei bieten sich zahlreiche Aktionsfelder für eine selbstbewusste, parteienunabhängige Arbeit an. Ziel muss es sein, Druck auf die Wirtschaft auszuüben und sie zum unfreiwilligen Bündnispartner zu machen. Schon jetzt investiert die Branche, gerade weil das Investitionsklima für Atomkraft so schlecht ist, in den Bau kraftwerksnaher Zwischenlager, um so die politisch lästigen Demonstrationen gegen die Castor-Transporte zu unterlaufen und den Dauerbetrieb der Reaktoren zu gewährleisten. Diese Strategie geht jedoch nicht auf: An den zwölf AKW-Standorten, an denen demnächst heißer Müll gelagert werden soll, formiert sich der Widerstand. So in Lingen und Gundremmingen. Die Vorstellung, der atomare Dreck bliebe vor Ort, bringt sogar Befürworter auf die Palme. Bald rollen erneut Transporte nach La Hague oder gar ins verruchte Sellafield. Im Herbst stehen die „Rücktransporte“ der hochradioaktiven verglasten Atomsuppe nach Gorleben an. Klagen und öffentliche Proteste tausender Menschen werden die Debatte um den Ausstieg erneut anfachen und die politischen Kosten ebenso stetig wachsen lassen wie die Investitionskosten.

Die Anti-AKW-Bewegung muss sich auf die eigene Kraft und die gesellschaftliche Rolle des außerparlamentarischen Protests besinnen. Das zielt nicht auf Verbalradikalität, sondern auf die Authentizität unserer Forderungen. Dabei gilt es, auch neue Formen auszuprobieren: Kongresse zum Strahlenschutz, energiepolitische Ratschläge im Bündnis mit Gewerkschaften, Symposien zum Demonstrationsrecht ... Wir müssen ein Störfaktor sein, der das Atomstrom- und -müllgeschäft zu teuer macht – ökonomisch wie politisch.

Zitate:Ein möglicher Bündnispartner ist die Wirtschaft, wenn auch nicht ganz freiwilligDer Streit um die Atomkraft ist in allen Lagern symbolisch besetztKlagen und öffentlicher Protest fachen die Debatte immer wieder an