Generation Atheismus

Jugendliche lassen sich nicht mehr verlocken. Sie sind zukunftswillig ohne „fröhlichen Optimismus“. Kirche und Politik interessieren kaum noch

von REINHARD KAHL

„Der einzige Weg, das Leben zu ertragen, ist, es zu genießen“, philosophiert der 20-jährige Mehmet aus Berlin. „Schritt für Schritt, immer voran“, orientiert sich Fabian aus Niederbayern. Und Ayberk meint: „Meine Stärke kommt daher, dass ich weder deutsch noch türkisch bin.“ Drei aus einer Generation von Individuen. Sie sprechen über sich und ihre Zukunft eher poetisch als politisch und handeln im Zweifelsfall pragmatisch.

Auf den ersten Blick ist wenig Spektakuläres an den 4.546 befragten und 32 porträtierten 15- bis 24-Jährigen, die für die 13. Shell-Jugendstudie erforscht wurden. Und doch sind diese fast 900 Seiten nicht nur der aufwendigste, sondern auch aufschlussreichste Jugendreport.

Die Studie taugt nicht für eineskandalisierende Schlagzeile

Bloß für eine skandalisierende Schlagzeile taugt „Jugend 2000“ nicht. Dennoch wollte die Deutsche Presse-Agentur sie an wenigstens einem Nasenring durch die Manege ziehen und meldete den Spiegel zitierend vorab: „mehr als jeder vierte Jugendliche ausländerfeindlich“. Stimmt so aber nicht. Die Kollegen konnten Mittelwerte nicht von Prozentzahlen unterscheiden (siehe Kasten und Kommentar Seite 11). Auch das andere schnell angeheftete Label „eine optimistische Jugend“ verzerrt und opfert die große Unübersichtlichkeit falscher Eindeutigkeit. Zwar blicken 49 Prozent „zuversichtlich“ und nur 9 Prozent düster in die Zukunft. 42 Prozent haben gemischte Gefühle. Die Optimismuskurve ist seit 1997 steil um 15 Prozentpunkte gestiegen. Und doch: „Kein fröhlicher Optimismus“, konstatieren die Forscher.

Die großen Veränderungen bei den Jugendlichen liegen weniger in den Parolen als in der Grammatik ihrer Lebensökonomie. Die meisten vertrauen ihrer eigenen Kraft und setzen auf das Zusammenwirken mit anderen. Die Jugend zerfällt nicht mehr in diejenigen, die ihr Leben bei vermeintlich klarer Planung sorgenfrei auf längst ausgelegte biografische Gleise stellen, und die anderen, die sich in „no future“ verlieben und dennoch heimlich von der ganzheitlichen und biologischen Familienidylle träumen. „Biografische Anstrengung“ ist am ehesten das Signum dieser Generation. Dabei verabschiedet sie sich von den großen Kollektiven und deren Zwangsvorstellungen. Die Zeit von Weltuntergangsstimmungen ist endgültig vorüber. Arbeitet die Mehrheit zuversichtlich an den Mikrowelten ihrer individuellen Zukunft, so sehen zwei Drittel positive Zeichen vor der Makroentwicklung der Gesellschaft. Zukunft kann gemacht und muss nicht erlitten werden! Welch Statement einer deutschen Generation!

Wenn es also einer Generationsformel bedarf, dann sollte es die der Mitautorin Yvonne Fritzsche sein: „Die Jugend ist schon in der Zukunft angekommen.“ Sie ist bereit, sich Unsicherheiten auszusetzen und hat Lust an eigener Wirksamkeit.

Und doch wendet sich diese Generation von der großen Bühne der Politiker-Politik ab. „Erdrutschartig“ nennt Arthur Fischer, Leiter der Studie, diesen Einbruch. Politisches Interesse bekundeten 1991 noch 57 Prozent, 1999 sind es nur 43 Prozent der Jugendlichen. Altrevolutionäre brauchen sich keine Hoffnungen zu machen: Von „revolutionären Utopien“ bekam Fischer gar nichts zu hören. Diese Abkehr deutet weder auf einen antidemokratischen Impuls noch auf den Rückzug ins Private.

Deutlich wird der Abschied von Ideologien. Das trifft auch die Kirchen. Die Jugendlichen gehen kaum noch hin. Wenn sie auch die Konfirmation noch mitmachen, der eine und einzige Gott, der keinen anderen neben sich duldet, ist für sie gestorben. Auch Sekten haben nur noch marginale Chancen. Die Jugendlichen sagen nicht nur den alten religiösen Heilslehren ade, sie verabschieden sich auch von deren säkularen Nachfolgern, den politischen Erlösungsbewegungen und deren Schatten, den apokalyptischen Reitern. Dieser Prozess hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt. Die Jugendlichen entziehen ihre Sympathien den „Grünen“ und dem politischen Alternativspektrum. Noch 1996 zählten sich 21,6 Prozent zu den Freunden der Grünen und machten diese damit zur von Jugendlichen meistgewählten Partei. 1999 fanden nur noch 11,1 Prozent der Jugendlichen die Grünen gut. Die Partei hat in nur drei Jahren die Hälfte der Zustimmung verloren. Die SPD steigerte ihren Anteilvon 20 Prozent auf 21,2 Prozent und die CDU von 15,4 auf 21,7 Prozent. Die Erhebungen wurden im Herbst 1999 abgeschlossen. Gewiss würden die CDU-Werte derzeit anders ausfallen.

Wichtiger als die Konjunktur der schwankenden Voten sind die dahinter liegenden, sich langsamer wandelnden Einstellungen. So wurde der CDU Nähe zu technologischen Innovationen und eine Aura von Moderne zugeschrieben. Wer Globalisierung als Chance sieht, fand bei den christlich-konservativen eher Asyl als bei den Grünen. Aber aus diesen Sympathien entsteht kein politisches Engagement im klassischen Sinne mehr. „Auch die CDU-Sympathisanten teilen die allgemeine Skepsis der meisten Jugendlichen hinsichtlich der Relevanz der hohen Politik“, schreibt Arthur Fischer.

Politisch Verlass ist auf diese Jugend nicht. Den Sympathieverlust der Grünen erklärt die Studie damit, dass sie im besonderen Fokus der Kritik von Jugendlichen stehen. Einzelne Kritikpunkte treffen zwar auch die anderen Parteien, doch auf die Grüne Partei scheinen sie sich zu konzentrieren. Großorganisationen werden als lebensfern abgelehnt. Sie seien an den Problemen speziell der Jugendlichen nicht wirklich interessiert. Allergisch reagieren die Jugendliche auf jede Art von Predigt. Sie verabscheuen folgenlos bleibende Kritik. Sie verlangen Arbeit an überlegenen Alternativen.

Punktsieger bei den politischenPräferenzen ist: „keine“

Punktsieger bei den politischen Präferenzen ist die Sparte „keine“. War „keine Partei“ 1996 schon mit 32 Prozent Spitzenreiter, kommt diese nihilistische Option inzwischen auf 35,9 Prozent. „Die Jugendlichen entfernen sich nicht etwa bewusst vom politischen System“, schreibt Arthur Fischer, „sie lassen es mehr und mehr links liegen.“ Also kein kalkulierter Protest. Wenig Bedeutung haben die Republikaner. Sie fielen seit 1996 von 2,4 auf 1,8 Prozent. Die PDS bringt es nahezu unverändert auf 2,9, und die FDP dümpelt bei 2 Prozent.

Von den großen politischen Bekenntnissen und ihren verblichenen Schatten, den Parteien, wandert die Weltenergie der Jugendlichen keineswegs, wie mancher Kulturkritiker argwöhnt, in Konsum und ins Private. Das zeigen etwa die 32 Porträts im zweiten Band der Studie und die Befragungen über Orientierungsmuster. „Das große ‚Sowohl-als-auch‘ rückt an die Stelle des ‚Entweder-oder‘ “, fasst Yvonne Fritzsche zusammen. Sie beschreibt Werte als Vorräte an „gesellschaftlich und persönlich Wünschbarem“ und sieht die Jugendlichen „als Konstrukteure von eigenen Biografien mit persönlichem Wertekosmos“. Beruf und Familie stehen hier im Mittelpunkt. Die Familie wird weniger als Garant materieller Versorgung gesehen denn als „emotionale Ressource“. Heiraten oder nicht ist keine Glaubensfrage mehr. Der Generationskonflikt hat als Mechanismus, eigene Identität per Verneinung zu schöpfen, weitgehend abgedankt. Eltern gelten häufiger als früher als Vertrauenspersonen. Viele Jugendliche wollen den selbst erfahrenen Erziehungsstil bei den eigenen Kindern fortsetzen. „Ihre Verselbstständigung geschieht nicht im Konflikt, sondern geradezu in Absprache mit den Eltern.“

In der neuen Shell-Studie zeigen sich Konturen der vielleicht ersten durch und durch atheistischen Generation. Für die große Politik scheint diese eher verloren. Politik behandelt sie als eines von vielen gesellschaftlichen Subsystemen taktisch. Interessant ist, wie an die Stelle der Ideologien und großen Organisationen, diesen großen sozialen Plastiken des 19. und 20. Jahrhunderts, bei den Jugendlichen eine neue Politik des eigenen Lebens tritt. „Jeder Jugendliche“, fassen die Autoren zusammen, „muss und kann sich seine Identität und Wertorientierungen zusammenbasteln.“ In dem von großen Ideologien geräumten Feld wird nun die so großartige wie fröstelnde Freiheit erlebt und muss ausgehalten werden. Jugend stand lange für die heroische Pose einer Freiheit von etwas: Aufbegehren gegen Ketten und Konventionen. Jetzt kommt es auf eine Freiheit zu etwas an: die subversive Konstruktion einer prinzipiell offenen Zukunft.

Die Studie zeigt, wie Jugendliche als unspektakuläre Akteure in einen soziokulturellen Verpuppungsprozess eingetreten sind. Nicht beantworten kann sie, wovon es abhängen wird, was aus diesen „Larven“ wird. Schmetterlinge oder Nachtfalter? Was können erwachsen gewordene Erwachsene tun, damit die Larven nicht vertrocknen? Das sind Fragen einer neuen Politik, die diese Generation aufwirft.

Kommentar SEITE 11