Die Welt ist ein Dorf

Feindberührung in Friedenszeiten
Von GABRIELE GOETTLE

Manchmal, aber nur für einen kurzen Moment lang, wird sichtbar, was die Suppenküche insgeheim zu sein scheint: ein Ort ewiger Verdammnis, und zugleich ein allegorisches Spiegelkabinett der Gesellschaft. Hochgelehrte Diskurse und gängige Debatten werden hier auf haarsträubendem Niveau repetiert und bis zur Kenntlichkeit entstellt. Die Armen hüllen sich in die abgelegte Kleidung der Gutbetuchten, und persiflieren damit diese und sich selbst. Auch gibt es überraschende physische Ähnlichkeiten mit toten oder noch lebenden Persönlichkeiten. Neulich tauchte ein Krüppel auf. Er balanciert auf zwei gelben Krücken, ist sehr gescheit, sarkastisch und bescheiden, und gleicht oben herum bis aufs Haar dem Psychoanalytiker Breuer (einem Mitarbeiter Freuds), was der Antiquar sowohl bemerkte, als auch mit Fotografien belegen konnte. Er rief aus: „Eine Reinkarnation!“, und der Krüppel sagte: „Zur Strafe, nehme ich an, für irgendwelche Vergehen?“ Merkwürdig sind auch die Spielformen, in denen sich das, was gemeinhin Geschichte genannt wird, zu Wort meldet.

An eine der merkwürdigsten „Wortmeldungen“ wurde ich unlängst erinnert, als ich den Kirchenmaler im Gespräch mit einem etwa fünfzigjährigen Mann antraf. Sie unterhielten sich in französischer Sprache und es stellte sich heraus, dass der bärtige Mann mit dem freundlich leeren Gesicht, ein deutscher Fremdenlegionär war. Obwohl der Bärtige immer wieder versicherte: „Ich habe nicht gesagt, dass ich dabei war, ich kenne mich lediglich ein wenig aus in der Materie!“, wurde das Gespräch immer lebhafter, schwelgender. Eine ähnlich lebhafte Begegnung, aber in anderer Besetzung, hat sich vor längerer Zeit ereignet. Ich habe damals aus Gründen der Rücksichtnahme nicht darüber berichtet, nun aber, da Zeit vergangen ist und sich die Dinge geändert haben, kann von ihr erzählt werden.

Suppenküche der Adventisten in Spandau: Der Antiquar empfängt mich mit einer aufgeregt erzählten Nachricht: „Höre mal was passiert ist, schade, das Frédéric heute nicht kommt, sonst hätte er selber berichten können, also folgendes war passiert. Der Frédéric traf auf einen Algerier. So ein Zufall! Der Algerier saß bei uns am Tisch, in der Pfarrei in Steglitz. Niemand kannte den. Es waren noch Plätze frei, also hat er sich gesetzt. Er kam in Begleitung dieses Dicken da, ohne Zähne, aus Tschechien der. Und Frédéric der Kirchenmaler, war schon da. Es hat sich dann herausgestellt, dass der Dunkle Algerier ist. Stell dir das mal vor, der ehemalige Fremdenlegionär und Algerienkämpfer, an einem Tisch mit einem Algerier! Der war zwar damals fast noch ein Junge, aber sein Vater war ein ganz wichtiger FNL-Mann. Sie haben abwechselnd Deutsch und Französisch gesprochen, vieles konnte ich nicht verstehen, aber Frédéric kam richtig in Stimmung. Das ist ja komisch, wenn man bedenkt, wie sie dort gewütet haben. Der Algerier ist aus gutem Hause, aber ganz verarmt und verlassen. Getrennt von Frau und Sohn, lebt er in einem Heim für obdachlose Männer. Der konnte einem richtig leid tun... Schau mal schnell unauffällig zur Tür, das isser, der, der da steht! Selim heißt er.“ Der Antiquar winkt dem Neuankömmling zu und macht uns erfreut miteinander bekannt.

Der Algerier ist schätzungsweise Ende vierzig, dunkel gekleidet, kräftig. Das schwarze, glänzende Haar lichtet sich stark auf seinem Hinterkopf, die Augen sitzen ein wenig aus der Achse verschoben im Gesicht, was dem Mienenspiel etwas Irritierendes gibt. „Na, immer noch einsam, verlassen, und fern der Heimat?“, fragt der Antiquar forsch. Der Algerier seufzt: „Ja, leider. Ich bin schon viel zu lange hier und warte und warte bis der Wind sich dreht. Darüber werde ich alt und glatzköpfig.“ „Der Wind, der dreht sich ja immerzu“, sagt der Antiquar ironisch und unser Gegenüber fügt hinzu: „Aber eben in die falsche Richtung. Sogar hier bläst er mir ins Gesicht. Ich bin stundenlang festgehalten worden am Kurfürstendamm von der Polizei. Sie haben mich – nur so per Augenschein – für einen Kurden gehalten, für einen Teilnehmer der Kurdendemonstration. Ich war zufällig in der Nähe, sonst nichts. Ich dachte mir noch, fährst du lieber schnell weiter, in diesem Moment wurde ich schon festgenommen. Zur Überprüfung der Papiere, wurde mir in grobem Ton gesagt. Unglaublich! Und das verdanke ich nicht einer CDU-Regierung, das verdanke ich unserer rot-grünen Regierung. Das erste, was er gesagt hat, der Hundesohn, der Schily, war, dass mit unerbittlicher Strenge durchgegriffen wird gegen kurdische Rechtsbrecher. Das hat er gesagt zu einem Zeitpunkt, als die Schuld noch gar nicht feststand. Abschiebung! Da wusste ich Bescheid. Der Hundesohn! Wie Kanter benimmt er sich, wie Zimmermann. Und das sind Leute, die sich früher mal für ganz andere Ideen eingesetzt haben. Dass Schily zuletzt der einzige Vertrauensanwalt der RAF war, das glaubt heute doch kein Mensch mehr, er selber am allerwenigsten.“ Der Antiquar gibt mit vollem Mund zustimmende Laute von sich und lobt dann die ausgezeichneten Sprachkenntnisse. „Das kommt daher“, erklärt der Algerier amüsiert, „dass ich in Bad Reichenhall im Goethe-Institut Deutsch gelernt habe. Eine gute Grundlage. Ich war begeistert von Deutschland, 68 war ich in Berlin und, damals waren die Menschen schön...“, seine Augen werden feucht, er schluckt und spricht weiter, „ihre Hoffnungen waren auch schön...“. Der Antiquar kichert vorsichtig, weil er sieht, dass es Ernst ist. „Daran bin ich schon gewöhnt, dass man lacht. Mein Sohn sagt auch immer, ‚Du und dein ‘68, schau doch mal die Nachrichten an, da hast du deine Achtundsechziger, schöne Empfehlung!‘ Und ich kann ihm nicht erklären, dass die Leute vom ehemaligen Sozialistischen Anwaltskollektiv sich total verändert haben. Der Mahler, der Hundesohn, hat sich vom Ultralinken in einen ultrarechten Faschisten verwandelt. Und die anderen sind mehr oder weniger Spießbürger geworden. Und als Spießbürger reden sie Bla Bla und sind für Ruhe und Ordnung. Für mich ist das unbeschreiblich schlimm, denn einen davon kannte ich wirklich gut. Er hat mir viel geholfen. Er kannte meinen Vater, er kannte meine ganze Familie, unsere vollständige Leidensgeschichte. Er hat so wunderbar Französisch gesproche...“ Wieder wird er von Rührung überwältigt. „Gut, er war vielleicht der Gemäßigte politisch, von allen, dafür war er aber wirklich solidarisch, ein integerer Mann mit unverdorbenem Rechtsempfinden. Er war ein guter Mensch, hilfsbereit. Wenn ich zu ihm kam und klopfte, sagte, ich bin am Ende, dann wurde ich freundlich empfangen, bekam irgend eine Arbeit und Hilfe.“ Der Antiquar erkundigt sich nach dem Namen dieses Anwaltes. Selim nennt ihn ohne zu zögern und fährt fort: „Eines Tages habe ich von diesem verehrten mann zufällig einen Text gelesen. Das war unglaublich! Er hat einfach erklärt, wir, die Linken, müssen aufhören damit, die Polizei nicht zu mögen. Wie kommt der Mann auf diese Idee? Die Polizei war immer das, was sie ist, ein Exekutivorgan, ein notwendiges Instrument im demokratischen Staat. Sogar vielleicht ein halbwegs zivilisiertes – ich weiß als Algerier ganz genau, wovon ich rede – aber wieso muss ich sie mögen, als Linker? Kohl hat nie dazu aufgefordert, die Polizei zu lieben. Für ihn war die Polizei eine Selbstverständlichkeit. Für die Renegaten nicht, das ist unübersehbar, aber sie merken es nicht mal. Sie bekennen sich ständig zu Selbstverständlichkeiten in ihrem Übereifer. Was soll man tun, soll man spucken? Und warum macht der Mann das? Hat er Angst davor, als Letzter übrig zu bleiben mit einer unpopulären Gesinnung, ausgelacht oder ausgegrenzt zu werden? Na und? Wäre das so schlimm, könnte er das nicht ertragen? Hier hat doch keiner was zu befürchten in diesem Land, keiner wird verhaftet für seine Meinung, keiner wird gefoltert oder verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Wenn er seine Meinung frei sagt, dann schützt ihn sogar ein gutes Gesetz. Und trotzdem reden sie alle so, als würde ihnen Verfolgung und Todesstrafe drohen, die Hundesöhne. Sie haben klein beigegeben ohne Not! Das werfe ich ihnen am allermeisten vor...“ Nun fließen ihm Tränen aus den Augen, er ist sichtlich erschüttert.

Der Antiquar sagt, um irgend etwas zu sagen und weil sich ja kein Trost spenden lässt: „Erzähl doch mal, wie war für dich denn die Begegnung mit dem Fremdenlegionär?“

Der Algerier wird durch diese Frage sofort aus seinem Schmerz heraus, und in einen neuen hineingereissen, wie es scheint. Er fixiert den Fragenden mit seinem rätselhaften Blick und stößt hervor: „Ein Albtraum war das! Ich fühle mich schon seit Jahren wie in einem Albtraum. Ich bin ganz unten angekommen, wohne in meinem Wohnheit und dachte mir, jetzt bist du so weit wie noch nie entfernt von deiner Vergangenheit. Und dann treffe ich sie plötzlich wieder. Ich treffe auf einen ehemaligen Fremdenlegionär, der mir den Albtraum meiner Kindheit und Jugend zurückbringt. Und er sitzt nicht einfach nur da am Tisch, und isst das Brot der Armen, nein, er erzählt mir, ganz unbefangen, wie er genau in der Gegend im Einsatz war, in der auch ich damals gelebt habe. Er kennt alles, die Stadt, die Dörfer, ihre Namen und er will, dass wir zusammen sprechen darüber. Und er kommt ins Schwärmen, und ich komme ins Schwärmen, er reißt mich mit, der Hundesohn! Er lobt mein Land, die Schönheiten der Natur und er lobt die guten menschlichen Sitten, besonders die Gastfreundschaft. Er sagt das voller Überzeugungskraft, wie zu jemanden, der daran zweifelt. Deshalb nannte er mir ein Beispiel, er sagte: ‚Wir kamen eines Tages zu den Bauern und obwohl wir doch der Feind waren, sagten die Bauern zu uns, nehmt, nehmt, die Hühner, die Eier, nehmt das Gemüse, nehmt nur, nehmt. So sind dort die Bauern, von Herzen gute Menschen.‘ Stellt euch das mal vor. Ich war wie gelähmt, es war mir so schrecklich zu Mute. Dass er mir so was erzählt mit leuchtenden Augen, voller Ehrlichkeit, das hat mir mit einem Schlage die Erkenntnis gebracht, dass weder ein Individuum noch ein Staat zum Bewusstsein seiner Schuld kommen kann. Ich habe etwas gelernt. Ich habe mehr gelernt, als wenn er gesagt hätte: ‚Es ist schlimm gewesen, was wir gemacht haben, wie wir dort in diesem fremden Land gehaust haben, aber es ist lange her, Schwamm drüber!‘ Nein, er ist davon überzeugt, sie mussten nicht einmal drohen oder fordern, sie mussten die Eier und Hühner ncht mal in den Dörfern suchen und beschlagnahmen, weil die Bauern sie ihnen ja freiwillig und von sich aus überreicht haben, als Gastgeschenke. Unglaublich! Er war in Blida, die ganze Zeit war er dort. Ich war auch in Blida, ging dann aber an einen anderen Ort, an dem er nicht war, im Gebirge war das, in Ostalgerien. Vielleicht würde ich sonst heute gar nicht hier sitzen. Mein Vater war in Frankreich damals, er war ein Revolutionär und Mitglied der FNL.“ Der Antiquar sagt andächtig: „Kaum zu fassen, ein Witz der Geschichte, dass ihr Jahrzehnte später zusammentrefft, beide in der gleichen Patsche, insofern auf derselben Seite.“ „Ich protestiere!“ ruft Selim empört aus, „auf der anderen Seite bin ich immer noch und da bleibe ich auch! So, und jetzt muss ich aufbrechen.“ Er verabschiedet sich mit melancholischem Gesichtsausdruck und winkt uns noch einmal freundlich zu nach ein paar Schritten.

Das also ist die Geschichte, an die ich durch das Gespräch der beiden Fremdenlegionäre erinnert wurde. Ich hörte eine Weile zu. Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, wurde das Gespräch kühler, konventioneller und brach schließlich ganz ab als Frédéric sein Cigarillo ausdrückte, aufstand und so gut wie grußlos wegging. Später bat ich ihn, mir von Algerien zu erzählen, was er nach einigem Sträuben tat:

„Davon verzähl ich normalerweise nichts, und einer Frau gegenüber schon gar nicht! Aber weil Du‘s bist ... Also zweieinhalb Jahre war ich in der Legion und die zählen nachher wie fünf Jahre, weil ich ja in Algerien war. Der Krieg zählt doppelt. 61 bin ich reingegangen und 63 bin ich raus. Wo ich von Algerien zurückgekommen bin, da hab‘ ich keine Zähne mehr im Mund gehabt. Vom Leben, da wusste ich gar nichts. Ich bin ja vom Waisenhaus aus gleich in die Legion, will ich mal sagen. Das Waisenhaus und die Legion, sonst hab ich nichts gekannt. Ich habe noch nie eine Miete gezahlt gehabt, noch nie einen Strom gezahlt oder warmes Wasser. Ich wusste nicht, wie man ein Konto eröffnet, einen Pass verlängert oder wo es Beratung und Hilfe gibt. Ich war wie ein wildes Tier, was des betrifft, und ich habe gelebt wie ein Tier. Ich habe mich versteckt gehalten. Dann habe ich meinen Freund kennengelernt, den Robert, mit dem ich 1970 auch nach Berlin gegangen bin und zusammen gearbeitet habe in unserer kleinen Malerfirma. Der Robert, der war genau so dumm wie ich. Aber der war aus einem richtigen guten Elternhaus und hat trotzdem nichts gekonnt, weil sie ihm alles hingestellt und gemacht haben, die Eltern. Da da war ich noch besser! Ich hab wenigstens gelernt, wie man näht, kocht, Feuer macht und sein Zeug in Ordnung hält. Aber du willst ja Algerien wissen...

Also stationiert war ich in Blida, in der Basis – ich war ja als Kurier ausgebildet. Blida war ein ganz großes Militärlager, und Blida, will man sage, die kleien Stadt selber, das war ein schöner arabischer Ort, groß, bis in die Berge hoch. Da war eine richtige Moschee und sogar ein Bazar haben sie gehabt. Da waren ... wie sagt man ... Herrenhäuser, da haben die reichen Araber ihre Frauen alle untergebracht und die Diener. Das war Blida und dort war ich. Und dann war da Algier, die Hauptstadt und von dort war‘s nicht mehr weit zu dem Totendings ... zum Maison Carée. Das war am Meer und für alle ein schrecklicher Ort, ein Geheimnis. Dort saßen die Todeskandidaten, eingesperrt bis zur Exekution.Da waren die Verhöre und es gab dort Luftlandeplätze und alles. Ich will dir mal eine Sache erzählen, da war ich selber dabei. Das war 1961 im April. Morgens um einse sind wir geweckt worden. Das ganze Lager wird evakuiert, in Algier soll das reguläre Militär abgelöst werden, hieß es. Um neuen waren wir alle in mehr als zweihundert Busse verladen und das ganze Lager war leer. Du fährst in deinen Einsatz und du weißt gar nichts! In Algier waren Panzer mit den Zahlen drauf, damit wir alle wussten, in welche wir einsteigen sollten. Panzer und Schützenpanzerwagen waren da. Alles fuhr zur Place d‘Arme. Dort waren die Araber schon. Viele, fünf- sechstausend Leute waren das vielleicht. Vorne dran waren die Kinder, die sich niedergesetzt haben, die Frauen hintendran, dann die Männer und dahinter dann standen die Untergrundkämpfer mit Waffen. Das haben die Araber immer so gemacht, dass die Frauen und Kinder wie eine ... wie sagt man ... Schutzmauer aufgestellt worden sind, weil dann oft nicht geschossen worden ist. Und wie wir da hinkommen, da war es so elfe vorbei. Und du kannst dir die Hitze vielleicht vorstellen, die da geherrscht hat um diese Tageszeit, wenn die Sonne fast oben in der Mitte gestanden hat. In so einem Panzerwagen, da bratest du durch. Und das Wasser war auch bald verbraucht. So um zweie, da sind die Hubschrauber gekommen, große Militärhubschrauber, in die sehr viele Soldaten reinpasen und Munition. Die Hubschrauber sind gekreist und haben eine Menge Sand aufgewirbelt. In dem einen Helikopter, das saß der General Jouhaud drin, der war für uns, für die Legion zuständig, und der andere, der war auch dabei, der General Salan, der für die Region zuständig war. Die sind alle beide in Algerien geboren und sie waren dagegen, dass Algerien die Indépendance ... wie sagt man ... die Unabhängigkeit bekommt. Und die beiden Generäle waren auch die Führer von der OAS. Weil die Hubschrauber keine Landeerlaubnis gekriegt haben – da haben wir uns schon gewundert – sind sie zum Maison Carée geflogen. Dort haben sie dann beraten. Das haben wir alles später erfahren. Um Punkt halber viere sind die Helikopter wiedergekommen und das hat so einen Sandsturm gemacht, dass gar nichts mehr zu sehen war. Es hat einen Befehl gegeben zum Rückzug und dieser Befehl ist direkt vom General de Gaulle gekommen. Alle militärischen und paramilitärischen Truppen sollten sich zurückziehen. Der Befehl ist aber größtenteils nicht ausgeführt worden, denn das war ein Putsch, der Putsch der Generäle gegen de Gaulle. Er sollte sogar ermordet werden, aus dem Grund, weil er Algerien die Unabhängigkeit geben wollte. Unabhängigkeit, das will heißen, wir haben eine Kolonie verloren und das will heißen: Franzosen raus aus Algerien, alle! Was glaubst du, wie viele Franzosen salemals gelebt haben in Algerien! Das war wie ihr Heimatland. Da war niemand, der das hat aufgeben wollen. Und so kam der Putsch. Es war ein Durcheinander, ein Krach, eine Aufregung. Keiner hat was Genaues gewusst. Ein Teil von uns hat sich zurückgezogen, ich war auch dabei. Einen Überblick hat es nicht gegeben. Nach dem Rückzug sind die anderen geblieben – darüber ist später viel geredet worden. Ob das jetzt Legion war von anderswo, oder andere paramilitärische Truppen, darüber ist gestritten worden. Jedenfalls sind plötzlich alle Sirenen losgegangen und das war das Signal für den Angriff. Wer den Befehl gegeben hat und wie das salemals genau war, das ist in Wirklichkeit nie richtig rausgekommen. Jedenfalls ist da unheimlich geputzt worden auf dem ganzen Platz, da wurde auf alles gefeuert was sich bewegt hat, und auch auf das, was sich nicht bewegt hat. Man sagt, es wurde auch dann noch geschossen, wo sich nichts mehr bewegt hat. Abends, so gegen siebene, da hat sich nichts mehr gerührt. In ganz Algier lief kein Lautsprecher mehr und nichts, das war wie ausgestorben. Dass das der Putsch war, das haben wir gar nicht gewusst, erst später haben wir das so richtig kapiert. Und die Einheiten, die das gemacht haben, die sind anschließend sofort ausgeflogen worden. Ja, man kann sagen, das war grausam. Aus der Sicht vom Privatleben her ist das grausam, aber als Soldat bist du dafür ausgebildet, es ist wie eine Arbeit. Und normalerweise macht der Soldat seine Arbeit sauber und ist nicht barbarisch. Jetzt höret se mal, was ich gesehen habe mit meinen eigenen Augen. Ich habe ganze Lastwagen gesehen, voll mit toten Rekruten, alles Franzosen, nackicht, die Eier abgeschnitten und in den Mund eingenäht. Ohren ab, und im Arschloch einen Bambusstecken drin. Wer das gesehen hat, weiß was grausam ist. Es ist doch so, der Mann ist ein sehr gewalttätiges Tier und in der Ausbildung wird das Tier dressiert, es lernt nicht nur Techniken zum Töten, des lernt auch gehorchen. Du tust, was dir gesagt wird, nicht mehr. So gibt‘s weniger Grausamkeit. Und das Politische, will mal so sagen, hätte Frankreich Algerien 1830 nicht erobert, dann hätte das Land ein anderer genommen, alle wollten doch Kolonien haben, oder? Salemals haben die Franzosen dort sogar die Sklaverei abgeschafft und haben das Land gut kultiviert. Die ersten Kolonialisten dort waren Elsässer, die Piednoir, die Schwarzfüßler hat man die genannt. Sie haben schwarze Stiefel und braune Jacken angehabt. Und salemals, zu meiner Zeit, da hat man immer noch Piednoir gesagt zu welchen, die in Algerien geboren waren. Der General Jouhaud und der Salan, das waren Piednoir. Die Fremdenlegion, die ist genau so alt schon. Der König Louis-Philliippe hat sie damals gegründet für die Eroberung von Algerien und da sind die armen Leute rein, in die Legion, die, die nichts hatten und nichts werden konnten, und so ist das bis heute geblieben, kann man sagen.“

Auf die Frage, weshalb eigentlich er, als bettelarmes Waisenkind geglaubt habe, dass er sich in Nordafrika stark machen müsse für die Privilegien reicher französischer Kolonialherren, dafür, dass sie ihren Großgrundbesitz weiterhin behalten, ihre Landarbeiter weiter ausbeuten und ihren Wohlstand vermehren können, antwortet er nach einer längeren Denkpause folgendermaßen: „Ja... da bin ich einverstanden mit dem, ich weiß, wie du es meinst, das sehe ich heute im Alter auch alles ein bizzele genauer. Es ist ja nicht des, dass ich gegen die Unabhängigkeit war, die musste ja kommen. Aber ist es denn nachher besser geworden? Ja, Ben Bella, der war ja sehr gut, aber danach? Und das geht ja bis heute. Was die mit ihren eigenen Landsleuten machen, das haben nicht mal die Franzosen dort gemacht. Das ist das, was ich nicht verstehe, dass die oft schlimmer sind, wie die eigenen Kolonialherren waren. Aber alles in allem, ich will mal so sagen, ich bin keiner von denen, die ihre Schuld auf andere schieben, nur weil sie Befehle bekommen haben. Ich habe getötet, aber das ist was, über das ich dir nichts sagen will... Außerdem, solang wie ich noch ein Geheimnis habe für dich, solange gehst du nicht weg, stimmts?“, er lacht heiser auf, hustet und fährt fort, „im Ernst mal, manche Sachen kann man nicht verzähle. Dafür, dass ich es gemacht habe und dafür, dass ich gehorsam war, bin ich ausgezeichnet worden. Zwei militärische Auszeichnungen habe ich bekommen und eine für gute Führung. Gute Führung, dafür gab‘s einen kleinen Dienstgrad mehr, ein rotes Zeichen, wie ein Fädchen, das konnt ich mir auf den Ärmel oben oder unten hin machen, dann war ich so eine Art ... wie sagt man ... Kapo war ich. Die Auszeichnungen machen sich auch später im Alter bemerkbar, aber viel ist es nicht. Heute bekomme ich eine kleine Rente vom französischen Staat, alle Jahre muss ich hingehen zum Konsulat und mich zeigen, zur Bestätigung, dass ich noch lebe. Salemals, wie ich raus bin, da musste ich bei der Stelle meine Sachen abgeben und da haben sie mir das Dings vom Hals abgeschnitten, mit den Plaketten, da wo die Nummer draufsteht. Eins für Feuer, eins für Wasser. Also wenn du verbrennst oder wenn du ertrinkst, das eine Metall ist feuersicher, das andere rostet nicht. Die waren so am Hals befestigt, das konntest du nicht ausziehen. Die hätte man nur abgekriegt, wenn man den Kopf abgeschnitten hat.“ Ich frage ihn nach seiner Nummer und er nennt sie sofort und in appellmäßigem Tonfall: „SIX, UN, SIX, DEUX!“

Am Abend rief mich Frédéric an, er war besorgt, Kammerjäger untersuchten die Häuser und näherten sich auch seiner Wohnung, die wegen vollkommener Überfüllung und auch Verbarrikadierung, von keinem fremden Menschen betreten werden kann, und soll. In den alten Häusern ist offenbar ein Befall durch Insekten aufgetreten. Frédéric erzählt folgende erstaunliche Geschichte, die im Kontext der vorhergegangenen steht: „Ich hab welche davon gefangen und bin damit rübergegangen ins Virchow-Krankenhaus, die haben sie untersucht und gesagt, dass es Omeisen sind, eine spezielle Art von Omeisen und da brauche ich mir keine Sorgen machen, die sind harmlos. So und mit diesen Tieren, da verhält es sich folgendermaßen. Sie sind winzig klein, kaum zu sehen und vollkommen durchsichtig, wie aus Glas, nur am Kopf sind sie ein bizzele dunkel. Und diese Omeisen, die ziehen in riesengroßen Heeren durch die Häuser; oder wie Wolken, wie Wolken ziehen sie dahin, hunderte, hunderte, hunderte von Wolken. Fressen brauchen die nicht, deswegen sind sie unschädlich. Sie leben von sich selbst, die verzehren sich selbst. So wie eins stirbt, da fallen die Beine ab, der Oberkörper, der Kopf und die Fühler. Es kommen die anderen und fressen das alles. Der Unterkörper bleibt liegen. Das ist das Ei. Das ist doch ulkig, man braucht nicht einmal ein Ei legen, um ein Ei zu kriegen. Das Ei liegt da wie tot, es kann fünf bis sechs Jahre so daliegen. Dann platzt das Ei und es sind drinnen noch viele kleine Eier, aus denen schlüpfen, sagen wir mal, fünfzig bis sechzig Omeisen. So vermehren sie sich. Was das Schädliche an ihnen ist, sie bauen Nester und die bauen sie, wenn einer da ist, in den Teppich. Ich habe keinen. Und diese Massen von Omeisen, die kommen immer zu bestimmten Perioden. In den anderen Jahren siehst du keine einzige. Interesssant ist auch, die Wissenschaft hat festgestellt, sie haben eine Königin der alle folgen. Und diese Königin kann gefangen werden. In einer Falle mit einem ganz bestimmten Duftstoff. Nur die Königin, sie als einzigste, hat die Fähigkeit, den Duftstoff zu riechen von dieser Falle. Wenn die Falle aufgestellt wird, dann geht die Omeisenkönigin rein, schläft ein und stirbt und die anderen hinterher, aber nicht alle. Später ist in der Falle nur noch sowas drin wie Staub. Weißt du, wie man sie noch fangen kann? mit gekochtem Eigelb. Du brauchst es nur hinlegen. Nach fünf, sechs Minuten weißt du, ob du welche hast. Ulkig ist auch, sie haben kein Geschlechtsleben, weil sie gar keine Sexualorgane haben. Nur die Königin darf welche ausbilden, sie hat die Macht. Dem, aus was sie zusammengesetzt ist, ist der Rest untertan, sie sind ohne Gehirn, ohne alles. Sie bewegen sich in breiten Einbahnstraßen vorwärts, außer, sie machen eine Arbeit oder treffen auf Feinde, dann kommt alles durcheinander.