Ein Probelauf für die Nato

Heute vor einem Jahr begann das westliche Bündnis mit der Bombardierung Jugoslawiens. Mittlerweile ist klar: Die Nato verfolgte im Kosovo-Krieg mehr als nur humanitäre Ziele
von ERNST-OTTO CZEMPIEL

Das Eigenlob, das sich die Nato dieser Tage ob ihres Einsatzes auf dem Balkan spendet, klingt schon sehr verhalten. Und das mit Recht. Ein Jahr nach dem Beginn der militärischen Intervention ist die Lage dort schlechter als je zuvor. Hinzu kommt, dass die internationale Politik Schaden genommen hat, weil der Gewaltakt der Nato die ganze Welt verunsichert hat. Das UN-Regime, von dem die Welt seit 1945 im Großen und Ganzen doch nur profitiert hat, wurde geschwächt. Wer wird angesichts dieser Negativa von einem Erfolg sprechen wollen?

Sein erklärtes Hauptziel, nämlich die humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern, hat das westliche Bündnis verfehlt. Unter den Bombenteppichen der Nato wuchs die Katastrophe erst zu ihrer ungeheuerlichen Größe heran. Gewiss, die serbische Soldateska musste das Kosovo verlassen, die Flüchtlinge konnten in das Kosovo zurückkehren. Dort aber setzten sie den Bürgerkrieg unter den Augen der Nato fort, vertrieben ihrerseits die Serben und Roma. Dieser Tage trugen die Kosovo-Albaner den Konflikt sogar nach Südserbien weiter. Bilanz: Nach unzähligen menschlichen Opfern und der weitgehenden Zerstörung der Provinz hat sich der Konflikt noch verschärft.

Auf westlicher Seite wurde zudem völlig vergessen, dass sich seit den Zeiten des Kalten Krieges viele Jugoslawen eher auf der westlichen als auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs verorteten. Wie um das Maß des Misserfolgs voll zu machen, hat sich die Nato nun erst durch die Bombardierung, dann durch die Boykottierung Jugoslawiens die dortige Bevölkerung zum Gegner gemacht. Eine Strategie aber, die den Diktator treffen will und stattdessen seine Gegner schwächt, desavouiert sich selbst.

Ohne die Mitwirkung Serbiens kann der Kosovo-Konflikt nicht gelöst, der Balkan nicht stabilisiert werden. Auf den Sturz Milošević’ zu warten heißt Zeit zu vergeuden. Ein Jahr ist schon verstrichen, ohne dass der Westen einen Strich zur Konfliktlösung getan hätte. In den westlichen Hauptstädten denkt offenbar kein Menschen daran, die Konferenz von Rambouillet fortzusetzen oder immerhin zu versuchen, mit Hilfe der Nachbarn Jugoslawiens die Fronten zu bewegen. Stattdessen wird der westliche Steuerzahler darauf vorbereitet, dass er Nato-Truppen auf dem Balkan auf unbestimmte Zeit unbegrenzt und ohne Erfolgsaussicht finanzieren muss.

Ob die westliche Führung die weltpolitischen Folgen des Angriffs auf Serbien nicht vorhergesehen, in Kauf genommen oder gar gewünscht hat, weiß man nicht. Peking hat offen ausgesprochen, was alle Welt denkt: Wenn die Nato Serbien bombardiert und dabei einen hohen Grad an Fähigkeit und Bereitschaft demonstriert, dann kann sie auch an jedem anderen Ort des Globus zum Angriff blasen.

Zeigt sie nicht gerade auf dem Balkan, wie sich das humanitäre mit dem geopolitischen Interesse vorzüglich verbinden lässt? Mit der Kosovo-Besetzung, der Präsenz in Albanien und Makedonien hat die Allianz jetzt begonnen, eine für sie ungünstige strategische Lücke im Südosten zu schließen. Diese Positionsverbesserung wurde vor allem in Moskau registriert, aber auch global in der gleichen Weise interpretiert: Das westliche Bündnis expandiert. Wer derartige Ängste auslöst, bringt zwei der größten Kriegsursachen in die Welt zurück: die Ungewissheit und die Angst. Beide beflügeln die Aufrüstung, begraben die Hoffnungen auf Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wer wird auf Massenvernichtungswaffen verzichten, wenn nur sie allein übrig bleiben, um einen möglichen Nato-Angriff abzuschrecken?

Das sattsam bekannte Sicherheitsdilemma klopft umso lauter an die Tür der Weltpolitik, als die Nato mit ihrer Serbien-Aktion eine weitere Barriere gegen den Krieg eingerissen hat: das Regime der Vereinten Nationen mit dem Verbot der Gewaltanwendung in seinem Zentrum. Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte die Charta der Vereinten Nationen 1945 jahrhundertelange Erfahrungen der internationalen Politik in dem Verbot ausgedrückt, militärische Gewalt zu anderen Zwecken als denen der Verteidigung einzusetzen. Dieses Gebot ist zwar nie vollständig eingehalten, als Norm aber bisher nicht in Frage gestellt worden. Das blieb ausgerechnet der westlichen Militärallianz überlassen, die für die Angriffe auf Serbien kein UN-Mandat eingeholt, sondern sich selbst beauftragt hat.

Wenn ausgerechnet der Westen, Vorbild der ganzen Welt, eine so wichtige ordnungspolitische Bestimmung außer Kraft setzt, ebnet er den Weg für alle potenziellen Aggressoren. Russland hätte seinen zweiten Tschetschenien-Krieg nicht so bequem begründen können. Der Präzedenzfall Kosovo könnte auch China nützlich sein, wenn es um die Zukunft Taiwans geht.

Glücklicherweise ist es den westeuropäischen Regierungen – unter Führung der Bundesrepublik gelungen, den durch die Nato-Aktion entstandenen Schaden zu begrenzen. Die KFOR-Truppe im Kosovo arbeitet wieder mit einem UN-Mandat; die Westeuropäer werden nicht müde, den Serbien-Krieg als Ausnahme zu bezeichnen. Eine Delle aber hat das UN-Regime dennoch davongetragen. Einmal beschädigt, kann es jederzeit wieder umgangen werden; einen Schutz vor Eingriffen und Angriffen bietet die UNO-Charta nicht mehr.

Versucht nicht außerdem die Nato, ausgerechnet auch noch mit dem Segen des obersten deutschen Gerichts, sich auf eine Stufe mit den internationalen Organisationen zu stellen? Hat sie sich nicht von einer Verteidigungsallianz zu einer Interventionstruppe gewandelt, obwohl im Nato-Vertrag von 1949 davon überhaupt nicht die Rede ist? Niemand weiß, was in den diplomatischen Kabinetten der Welt gedacht wird, aber man kann es sich vorstellen: Die Allianz setzt sich an die Stelle der Weltorganisation; der Nato-Rat, nicht etwa der UN-Sicherheitsrat, entscheidet über die Geschicke der Welt. Wer daran noch zweifelt, braucht nur das neue Nato-Konzept zu lesen, das im April 1999, mitten im Serbien-Krieg, in Washington veröffentlicht worden ist. Es liest sich wie ein Skript des Serbien-Krieges; es erhebt einen Weltführungsanspruch, der notfalls jenseits der Gremien der Vereinten Nationen und gegebenenfalls auch mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden soll.

Dieses Programm weist den Serbien-Krieg der Nato als Probelauf der neuen Nato-Strategie aus. Zwar gibt es wenige im Westen, die dieser Interpretation zustimmen. Insbesondere die Westeuropäer, die dem neuen Nato-Konzept reserviert gegenüberstehen, sehen in der Intervention im Kosovo die einmalige alternativlose humanitäre Aktion. Entscheidend aber ist, wie die Welt auf die entstandene Lage reagiert. Russland zum Beispiel hat wegen des Serbien-Krieges sein sicherheitspolitisches Konzept wieder auf Verteidigung umgestellt. Welch ein Preis für eine missglückte humanitäre Aktion.

Hinweise:

Auf den Sturz von Präsident Slobodan Milošević zu warten ist Zeitvergeudung

Das UN-Regime ist beschädigt worden und kann wieder beschädigt werden

Das westliche Bündnis Nato ist zu einer Interventionstruppe geworden