Jedes Wort

Raymond Carvers Kurzgeschichtenband „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ erscheint jetzt zum ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung

Sie hat ihm an diesem Tisch gegenübergesessen, es ist ihr Mantel, den sie über das Sofa geworfen hat, und es sind die Reste ihrer Zigaretten, die da im Aschenbecher liegen: Als Ralf im Morgengrauen nach Hause kommt, liegt der vergangene Abend wie eine feine Staubschicht auf den Dingen. Seine Frau hat ihn betrogen, gestern hat sie ihm davon erzählt, und jetzt steht die Zeit still. Ralf setzt sich an den Küchentisch und wartet. Irgendwann wacht seine Frau auf, sie will reden. „Sei einfach still“, sagt Ralf, so als ob sie die ganze Nacht geredet hätten: „Würdest du bitte endlich still sein, bitte?“

„Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ ist die Titelgeschichte in Raymand Carvers erstem von ihm selbst zusammengestellten Erzählband aus dem Jahr 1976: „Will You Please Be Quiet, Please?“ Mit diesem Band wurde Carver in Amerika bekannt. Jetzt ist er im Berlin Verlag auf Deutsch erschienen. Das ist gut, denn Raymond Carver konnte man hier zunächst nur in zwei unsystematisch zusammengestellten Bänden aus dem Piper-Verlag lesen – und dann gar nicht mehr: Die Bücher sind vergriffen. Nur beim Maro-Verlag gibt es eine Auswahl von Carvers Gedichten: „Gorki unterm Aschenbecher“ (Augsburg 1992, 151 Seiten, 25 DM).

Dabei ist Raymond Carver eigentlich kein Geheimtipp oder sowas. In Amerika sind knapp dreißig Bände mit Kurzgeschichten oder Gedichten von ihm erschienen, und Carver gilt als der wichtigste Begründer des „dirty realism“, der in den 70ern und 80ern von Richard Ford, Tobias Wolff und anderen durchgesetzt wurde. Diese Autoren verkaufen ihre Lizenzen in Deutschland für viel Geld an Piper, Rowohlt und auch an den Berlin Verlag, nur schreiben sie eben nicht nur Kurzgeschichten, sondern vor allem Romane. Great American novels. Und die verkaufen sich in Deutschland einfach besser.

Raymond Carver kennt man hierzulande daher vor allem durch Robert Altmans Film „Short Cuts“ (1993), der aus Carver-Stories zusammengesetzt ist. Und man kennt ihn auch, zumindest vom Namen her, weil er immer mal wieder im Zusammenhang mit den beiden deutschen Autoren Ingo Schulze und Judith Hermann genannt wird – weil sie beide so schön realistisch und vor allem, das ist jetzt das Stichwort: mit einer Lakonie schrieben, „wie man sie ansonsten nur bei amerikanischen Autoren wie Raymond Carver findet“.

Zur Lakonie später. Zunächst der amerikanische Autor: Raymond Clevie Carver, 1938 in der Holzfällerstadt Claskanie in Oregon geboren. Die Mutter ist Kellnerin, der Vater arbeitet in einer Sägemühle und trinkt. Raymond schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, heiratet die sechszehnjährige Maryann Burke und bekommt mit ihr zwei Kinder. Raymond trinkt, wie sein Vater. Die Ehe ist die Hölle, Carver geht es immer schlechter. Am 2. Juni 1977 hört er auf zu trinken, einfach so, elf Jahre später stirbt er an Krebs. Das ist das Leben.

In den Kurzgeschichten, die er in den 70er-Jahren für „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ schreibt, geht es um Trinker, um Kellnerinnen und um die Ehe, die eine Hölle ist. Mit oder ohne Alkohol, das ist das Leben, es besteht aus traurigen Geschichten. – „Das hier hat nichts mit mir zu tun“, beginnt eine der Carver-Stories, in der Henry Robinson, ein Briefträger, die Geschichte von zwei Freaks erzählt, die aus San Francisco aufs Land ziehen. Das nennt man wohl einen knappen Einstieg, und tatsächlich sind die Geschichten in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ ja auch sehr knapp gehalten. Helmut Frielinghaus hat diesen ökonomischen Schreibstil sehr gut ins Deutsche übersetzt. Er hat die ruhigen, nur mit „und“ oder Kommata zusammengehaltenen Reihungen von Hauptsätzen übernommen, und nicht – wie sein Vorgänger Klaus Hoffer in einem der Erzählbände bei Piper – durch fantasievoll eingefügte „dann“ und „während“ ergänzt. Er hat sogar akribisch auf die Zeichensetzung geachtet, und das ist wichtig, wenn man einen Autor übersetzt, der gesagt hat, es sei „alles wichtig in einer Erzählung, jedes Wort, jedes Satzzeichen“. Frielinghaus ist auch inhaltlich sehr genau: dass Ralf, der betrogene Ehemann der Titelgeschichichte, zum Beispiel von seiner Frau wissen will, ob ihr Liebhaber „in ihr gekommen ist“, und nicht – wie es falsch in der alten Übersetzung hieß – ob er überhaupt gekommen ist. Vor dem Hintergrund der doch sehr praktisch orientierten amerikanischen Sexualmoral ist das ein großer Unterschied.

Der Streit zwischen Ralf und seiner Frau eskaliert auf einer knappen halben Seite in der Titelgeschichte, die ganze Geschichte ihrer Ehe erzählt zuletzt ein einziger Satz: „Würdest du bitte endlich still sein, bitte?“ – Lakonie, „...wie man sie sonst nur bei dem amerikanischen Autor Raymond Carver findet“. Stimmt, aber... : Carver hatte in den 70er-Jahren viel mit Gordon Lish zusammengearbeitet, der zunächst beim Esquire als Redakteur für Kurzgeschichten zuständig war und dort den Titel der ersten dort veröffentlichten Carver-Story auf die Hälfte zusammengekürzt hatte – aus „The Neighbours“ wurde „Neighbours“. Lish wurde Carvers Lektor und brachte ihm das Kürzen bei: Sollte es so etwas wie „literarischen Minimalismus“ geben, ist dafür wohl eher Gordon Lish als Raymond Carver verantwortlich zu machen. Die Kurzgeschichten der späten 70er- und 80er-Jahre, die nicht mehr unter dem Lektorat von Lish standen, lesen sich dann auch ganz anders. Carver erzählt ausführlicher, langsamer – und manchmal sogar glücklicher. Aber das hat andere Gründe.

Irgendwann mehr davon. Der Berlin Verlag plant eine Art stille Werksausgabe und wird zwei weitere Bände mit Short Stories von Raymond Carver veröffentlichen. Jetzt liest man erst einmal in „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Und nach einer Weile merkt man, dass aus den knappen Sätzen und Formulierungen so gar keine lakonischen Erzählungen werden. Trotz Lish. Carvers Figuren sind nicht knapp und treffend gezeichnet – und das meint ja Lakonie –, sondern, sagen wir mal: unscharf. Man versteht nicht, warum Henry Robinson sich so sehr für etwas interessiert, das gar nichts mit ihm zu tun hat, man weiß nicht, warum in der Geschichte „Sind Sie Arzt?“ eine Frau immer wieder einen wildfremden Mann anruft und auch nicht, warum Wayne und Caroline in „Zeichen“ in ein teureres Restaurant gehen, nur um sich dort zu streiten.

Ein bisschen ahnt man, den Rest muss man sich denken und ausdenken. Und das ist das Beunruhigende an Raymond Carvers Geschichten: nicht dass sie knapp sind, sondern geräumig. Es ist so viel Platz darin für einen selbst. Man kann die Geschichten natürlich weiterhin lakonisch nennen, aber das ist nur eine Schutzerzählung: „Das hier hat nichts mit mir zu tun.“

KOLJA MENSING

Raymond Carver: „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2000. 325 Seiten, 39,80 DM

Zitat:

Das ist das Beunruhigende an Raymond Carvers Geschichten: nicht dass sie knapp sind, sondern geräumig. Es ist so viel Platz darin für einen selbst.