Mittelalterland

Das Echte gibt es nur noch in der Vergangenheit. Aber Zeitreisen habenso ihre Tücken. „Timeline“: Michael Crichton neuestes Buch zum Film

von NIELS WERBER

Es ist bei Crichton immer die Zukunft der Wissenschaft, die den Weg in die Vergangenheit bereitet. Die Gentechnik, nur ein wenig fortgeschrittener als heutzutage, macht aus einer in Bernstein erhaltenen Mücke einen ganzen Jurassic Park. Um Dinosaurier zu erleben, muss man nicht ins Innere der Erde reisen, sondern forschen und anwenden. Akademische Laborversuche, Grundlagenforschung, das alles interessiert seine Protagonisten nicht, sie ordnen den Erkenntnisgewinn ganz seiner Vermarktung unter. Die biotechnischen Errungenschaften werden nicht in Fachzeitschriften publiziert, sondern der Öffentlichkeit als konsumierbare Spektakel präsentiert.

Crichtons Romane, allesamt Drehbücher zu Blockbustern, setzen den wissenschaftlichen Fortschritt und seine kapitalistische Verwertung voraus, ehe sie ihn in Zweifel ziehen. Das Drängen der Investoren, die schnell die Rendite ihres venture capitals sehen wollen, löst die Katastrophe aus. Auch in seinem neuen Roman „Timeline“, der selbstverständlich verfilmt wird (Paramount), sind es die ökonomischen Imperative, die wissenschaftliche Hoffnungen in Alpträume verwandeln.

Die treibende Kraft in „Timeline“ ist ein amerikanischer Milliardär, also ein jungenhafter Typ in Jeans und Poloshirt, der seine ersten Millionen in der Garage verdient hat und nun mit 35 als Global Player auftritt. Ähnlichkeiten mit Bill Gates und Steve Jobs sind beabsichtigt. Robert Doniger, Vorsitzender und Mastermind von ITC, ist genial, skrupellos und zynisch. Unter seiner Leitung hat die Firma allerhand wunderbare Erfindungen entwickelt: ohrstöpselkleine Übersetzungscomputer, auf subatomarer Ebene arbeitende Gigacomputer, einen Materie-Transmitter ... Man könnte ein veritables Raumschiff Enterprise damit ausstatten, aber dennoch wird dies alles nicht teuer verkauft, sondern geheim gehalten.

Obwohl man daher jedes Jahr Verluste in Milliardenhöhe ausweist, sponsert ITC mit Millionenbeträgen archäologische Ausgrabungsteams in aller Welt. In Frankreich arbeitet man in idyllischer Lage an der Rekonstruktion eines mittelalterlichen Komplexes. Eine bunt gemischte Gruppe enthusiastischer Historiker, Paläontologen, Architekten, Kulturgeschichtler und Techniker vom sportlich-attraktiven Mittelalterdozenten bis zur grauen Manuskriptmaus erforscht eine Anlage, die im Laufe des Hundertjährigen Krieges beinahe vollständig zerstört worden ist.

Obwohl man allermodernste Mittel anwendet, schreitet die Ausgrabung nur sehr langsam fort, selbst über Ausdehnung und Gestalt der Bauwerke ist man sich im Unklaren. Um so überraschender ist für das Historiker-Team, eine E-Mail zu erhalten, in der ein Kloster mit einer Detailgenauigkeit abgebildet ist, die viel genauere Kenntnis verrät, als man selbst bisher gewonnen hat; um so verblüffender sind die nachlässigen Hinweise einer ITC-Anwältin auf im Wald verborgene Türme und Kapellen, die von der Ausgrabungsgruppe noch gar nicht entdeckt worden sind.

Professor Johnson befürchtet, dass ITC Informationen zurückhält, und fährt nach New Mexico, um Bob Doniger zur Rede zu stellen. Noch am selben Tag finden seine Mitarbeiter in einem gerade freigelegten Gewölbe uralte Pergamente: auf einem davon steht in der Handschrift des Professors „Helft mir!“ Ein Scherz, eine Fälschung? Die Vernunft sagt ja, die Radiokarbon-Methode sagt nein. Johnsons Flaschenpost aus dem Mittelalter ist 650 Jahr alt. Also muss er sie wohl selbst geschrieben haben.

Vier Mitarbeiter des Professors erfahren nun, dass ITC alle Anstrengungen einem einzigen Ziel untergeordnet hat: dem Betrieb von Zeitreisen. Crichton bemüht sich sehr, dies so plausibel erscheinen zu lassen wie das Klonen von ausgestorbenen Riesenechsen. Dazu beginnt er den Roman mit einem kleinen Essay über die Naturwissenschaften am Ende des Jahrhunderts. Auch 1899 habe man nicht für möglich gehalten, was 1999 längst zum Alltag gehört: Atomkraftwerke, Flugzeugflotten, drahtlose Telekommunikation etc. Heute lasse die Quantenforschung Ähnliches erwarten. Bei ITC habe diese Zukunft bereits begonnen. Aber wozu steckt man Milliarden in Zeitreisen? Nicht etwa um die Gegenwart zu verändern oder Football-Ergebnisse vorherzusagen, wie in „Zurück in die Zukunft“ oder „Seven Days“, sondern um die Vergangenheit als unerschöpfliche ökonomische Ressource zu erschließen.

Unsere Gesellschaft, so lautet die Prämisse der Geschäftsidee, habe vor nichts Angst außer der Langeweile. Überall, im Sport, in Urlaub, Fernsehen, Einkaufzentren suche man nach Abwechslung und Unterhaltung. „Strukturierter Spaß, geplante Kicks.“ Bald werde man davon genug haben, das „Künstliche“ sei „zu offensichtlich“. Das unentdeckte Land der Unterhaltung aber sei die Authentizität. „Und was ist alles authentisch? Alles, was nicht von Konzernen kontrolliert wird. Alles, was aus sich selbst heraus existiert und seine eigene Gestalt annimmt.“ Während es so etwas in der zeitgenössischen Welt überhaupt nicht mehr gebe, sei die „Vergangenheit unbestreitbar authentisch“. Sie ist so, wie sie ist, unbeeinflusst von der Kulturindustrie: „Disney und Murdoch, Nissan und Sony ...“ – „Die Vergangenheit ist echt. Und genau das macht sie unglaublich attraktiv.“

Und Doniger will sie vermarkten. Um die nötigen Informationen zu gewinnen, hat man Zeitmaschinen entwickelt. An der Dordogne soll dann eine der Stätten entstehen, deren Vermarktung Milliarden abwerfen wird: ein Jurassic Park für Geschichtstouristen! Mittelalterland!

Das Echte hat aber seine Tücken. Bei einer Mission ins 14. Jahrhundert ist der Professor verloren gegangen. Man schickt ein Rettungsteam hinterher. Es kommt zu menschlichem und technischem Versagen, und die Stubenhocker können die Geschichte schon einmal vorab so erleben, wie sie wirklich ist, in Echtzeit sozusagen. Die Yale-Doktoranden werden jene Orte betreten, die sie nur als Ruinen kannten, und die Erfahrung machen, dass ihre theoretischen „Abstraktionen“ aus „nichts als heißer Luft“ bestanden.

Mit nicht viel mehr gewappnet als mit ihrem Wissen als Pfadfinder und um den Ablauf der Geschichte begeben sie sich auf die Suche nach Johnson, um in einen existenziellen Kampf zu geraten, der ziemlich nach Schema F abläuft. Natürlich bleiben nur 36 Stunden, und man sieht schon den gewitzten Professor (Sean Connery?) in aller Ruhe Schwarzpulver mörsern, die Freeclimberin Kathe (Denise Richards?) in schwindelnder Höhe einen Ritter austricksen oder den austrainierten Marek (Val Kilmer?) das Breitschwert schwingen. Dass Crichton für die Verfassung dieses Historienschinkens etwa sechs Dutzend einschlägige historische Untersuchungen von Marc Bloch bis Georges Duby gelesen haben will, die er alle im Literaturverzeichnis nennt, hat ihm jedenfalls wenig dabei geholfen, Donigers Traum selbst zu verwirklichen und die Abenteuer authentisch wirken zu lassen.

Er bleibt bei der Kombination bewährter Stereotype, und dass der Roman es auf den ersten Platz der US-Charts schaffte, kann nur daran liegen, dass man dort keine vormoderne Epoche kennt und nach allem giert, was älter als die Brooklyn Bridge ist. Was von der Lektüre bleibt, ist eine gewisse Neugierde darauf, wie Hollywood die Rollen besetzen wird.

Michael Crichton: „Timeline. Eine Reise in die Mitte der Zeit“. Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr. Karl Blessing Verlag, München 2000, 578 Seiten, 44,90 DM