Ein typischer Vertreter

Der 84jährige Arzt Heinrich Gross soll 1944 im Rahmen der NS-Euthanasie-Politik Kinder umgebracht haben. Morgen beginnt der Prozess gegen ihn
aus Wien RALF LEONHARD

Morgen beginnt im Wiener Grauen Haus, dem Straflandesgericht, der vermutlich letzte Prozess gegen einen Nazi-Arzt. Der84jährige Psychiater Heinrich Gross ist in bisher zwei Verfahren straflos davongekommen. Ihm wird vorgeworfen, im Sommer 1944 an der Tötung von neun Kindern unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Er war in den Kriegsjahren an der Klinik Am Spiegelgrund, einer Euthanasieanstalt des Nazi-Regimes. SA-Mitglied Gross soll durch Verabreichung tödlicher Luminal- und Veronal-Injektionen die Selektion der NS-Rassenhygiene vollstreckt haben.

Überlebende der so genannten Kinder vom Spiegelgrund haben den gefürchteten Arzt noch in lebhafter Erinnerung. Der heute 70-jährige Johann Gross, der seinem Namensvetter als Zehnjähriger begegnete, hat die traumatischen Erlebnisse in seinem Buch „Spiegelgrund, Leben in NS-Erziehungsanstalten“ verarbeitet.

Vor 21 Jahren hatten Aktivisten der „Plattform Kritische Medizin“ den Fall an die Öffentlichkeit gebracht, als sie in Salzburg in eine Psychiatrie-Tagung platzten, wo Gross über „Tötungsdelikte von Geisteskranken“ referieren sollte. Die Ärztegruppe forderte, Gross solle besser über „Tötungsdelikte an Geisteskranken“ sprechen, darüber wisse er aus eigener Erfahrung Bescheid. Schließlich sei er in der Nazi-Zeit selbst „an der Tötung hunderter, angeblich geisteskranker Kinder beteiligt gewesen“. Gross konnte sich von dem Vorwurf nicht reinwaschen. Vor Gericht gab er an, es sei ihm juristisch nichts vorzuwerfen, er sei schließlich „in einem ordentlichen Verfahren freigesprochen“ worden.

Das stimmt nicht ganz. Gross war 1948 wegen Beihilfe zum Totschlag an Kindern zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden. Dieses Urteil wurde drei Jahre später aufgehoben und zur Neuverhandlung an den Volksgerichtshof rückverwiesen. Der stellte das Verfahren kurz darauf ein: aus prozessökonomischen Gründen, da der Verurteilte seine Strafe bereits in U-Haft verbüßt hatte. Wäre Gross damals tatsächlich freigesprochen worden, hätte er wohl auch Haftentschädigung bekommen müssen. Sein diesbezüglicher Antrag wurde aber abgewiesen, da er nicht nachweisen konnte, „dass er an diesen zahlreichen Morden unbeteiligt gewesen war“.

Auch seine Klage wegen übler Nachrede gegen die „Kritische Medizin“ war nur kurz erfolgreich. In erster Instanz verurteilt, bekamen die Ärzte vor dem Oberlandesgericht recht. Denn sie konnten nachweisen, dass Gross in 16 Punkten unwahre Schutzbehauptungen über seine Tätigkeit Am Spiegelgrund aufgestellt hatte. Die Berufungsinstanz sah es vielmehr als erwiesen an, dass Gross „an der Tötung einer unbestimmten Anzahl von geisteskranken, geistesschwachen oder stark missgebildeten Kindern (die erb- und anlagebedingt schwere Leiden hatten) mitbeteiligt war“. Konsequenzen hatte dieses Urteil für den Psychiater keine. Die Staatsanwaltschaft stellte keine weiteren Ermittlungen an. Von der Justiz wurde er lediglich schamhaft aus der Liste der Gerichtsgutachter gestrichen.

Dass Gross jetzt doch noch vor Gericht kommt, hängt mit der inzwischen geänderten Rechtsauffassung zusammen. Bis 1997 war man davon ausgegangen, dass an Geisteskranken kein Mord begangen werden könne, „da den Betroffenen die Einsicht fehlte“. Es gab also eine Art Opfer zweiter Kategorie. Deswegen hatte Gross nur nach dem Totschlagsparagraphen des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) von 1941 abgeurteilt werden können. Und Totschlag war längst verjährt. Das RStGB wurde angewandt, da Gross zum Zeitpunkt der Straftat Wehrmachtsangehöriger war. Sonst hätte nach dem so genannten Günstigkeitsprinzip nach österreichischem Strafrecht geurteilt werden müssen. Denn das RStGB sah für Mord und Beihilfe zum Mord die Todesstrafe vor.

Jetzt steht dem Prozess gegen das ehemalige SA-Mitglied nichts mehr im Wege. Außer dem Gesundheitszustand des Angeklagten. Strafverteidiger Nikolaus Lehner plädiert auf Verhandlungsunfähigkeit. Sein Mandant schlafe immer wieder ein und könne dem Prozess nicht folgen: „Ohne einen mitdenkenden Angeklagten kann man nicht agieren.“ Hat Gross vom chilenischen Diktator Pinochet gelernt, wie man sich seiner Verantwortung entzieht? Lehner schließt das entrüstet aus.

Für den Autor Hans Henning Scharsach, der gerade ein Buch über die Mediziner im NS-Regime veröffentlicht hat, ist Gross keine außergewöhnliche Bestie, sondern ein typischer Vertreter seines Berufs. Seine Recherchen hätten ergeben, dass es Ärzte mit der Pflichterfüllung besonders ernst genommen haben. Wurde ihnen befohlen, einen Menschen zu sterilisieren, dann hätten sie ihn sterilisiert.

Und wenn der Befehl Euthanasie lautete, dann hätten sie ohne Gewissensbisse die tödliche Spritze verabreicht. In keiner anderen Berufsgruppe war die Anzahl der Parteimitglieder auch nur annähernd so hoch wie bei den Ärzten. Die Zahl jener, die Widerstand leisteten, sei in Tausendsteln zu zählen.

Zitat:

Mediziner in treuer Pflichterfüllung: Wenn der Befehl Euthanasie lautete, dann verabreichten sie ohne Gewissensbisse die tödliche Spritze