Kultiviert, aber nicht zivilisiert

Russland ist nie eine Zivilgesellschaft gewesen. Aufklärerische Bewegungen haben dort nie Fuß fassen können. Deshalb gehört es auch nicht zu Europa
von SONIA MIKICH

Lange hat sie gefehlt in der Politik Russlands, doch nun ist sie wieder da: eine Ideologie. (1) Der amtierende Präsident Wladimir Putin schickt sich an, mit einem paternalistischen Patriotismus die Stimmen seiner Mitbürger zu erobern. Dabei soll der Patriotismus als Motor eines starken, zentralistischen Staates dienen, der auf keinen Fall die westliche Staatsidee von einer Gemeinschaft selbstständiger Individuen kopieren wird, sondern sich seiner traditionellen Wurzeln besinnen soll.

Putin hämmert bei allen Auftritten den Zuhörern die führende und regulative Rolle des Staates ein. Von ihm dürfen die Russen nach den Wahlen am 26. März erwarten, dass er die Rüstungsausgaben gewaltig hochschrauben wird, um die Wirtschaft anzukurbeln. Dass er die Sicherheitsdienste stärken wird, um den Anschein der Stabilität zu verbreiten. Dass er die Drohgebärden gegenüber unliebsamen Minderheiten und unmittelbaren Nachbarn vermehren wird, um Russlands Größe zu demonstrieren. Der Geist des KGB weht uns entgegen, und wir im Westen werden kuschen.

Putins voraussehbarer Wahlsieg beruht neben einer unverfrorenen Medienmanipulation und der verheerenden Tschetschenien-Kampagne auf einem Paradox: Er hat es geschafft, den Generationswechsel zu verkörpern bei gleichzeitiger Wahrung der Werte von gestern.

Die neue alte Ideologie soll nach Jahren der Jelzin-Agonie das Land aus der Lähmung führen, denn die vorausgegangene Machtlosigkeit, an der der Staat zu implodieren drohte, war für alle Schichten und Interessengruppen unerträglich geworden. Ob es sich nun um die ausbleibenden Zahlungen an Rentner, Soldaten oder Lehrer handelte oder um das marode Rechtssystem, das die Wirtschaft erstickte – das Zentrum versagte über Jahre hinweg.

Die alte Hoffnung von Marxisten und Utopisten, dass der unnötig gewordene Staat einmal von selbst verschwinden würde – sie schien sich im Russland unter Jelzin auf bizarre Art zu erfüllen. Die postkommunistische Gesellschaft litt unter Ratlosigkeit und Identitätsschwäche, der Staatsnotstand griff tief in den Alltag der Menschen ein, und da kam ein „starker Mann“ wie Putin gerade recht, um Russland zu retten.

Was uns beunruhigen sollte, ist, dass das Land nach den Präsidentschaftswahlen zwangsläufig zu noch stärkeren Formen des Autoritarismus finden wird.

Geradezu prophetisch waren die Worte von Galina Starowojtowa, der 1998 ermordeten Radikaldemokratin, als hätte sie den zweiten Tschetschenien-Krieg und seine Folgen für die russische Zivilgesellschaft vorausgeahnt: „Wir können eine faschistische Periode in Russland nicht ganz ausschließen, es gibt zu viele Parallelen zwischen dem heutigen Russland und Deutschland nach dem Versailler Vertrag. Eine große Nation ist erniedrigt worden, viele seiner Bürger leben außerhalb der Staatsgrenzen. Die Desintegration eines Landes findet zu einem Zeitpunkt statt, da noch viele Menschen eine imperialistische Wahrnehmung haben, und das im Rahmen einer ökonomischen Krise.“

Dass die Armee ungestraft einen brutalen Vernichtungskrieg gegen eine Minderheit entfesseln darf, massivste Menschenrechtsverletzungen und umfassende Zensur inbegriffen – diese Geisteshaltung hätte Starowojtowa wohl auch als „faschistisch“ bezeichnet.

Das Thema der künftigen Identität Russlands trieb diese Moralistin, Menschenrechtlerin und Ethnologin um. Und wie wenige verstand sie eine unpopuläre Wahrheit: Russland ist nur zu „retten“, wenn es individuell und institutionell bereit ist, auf diese schmerzhafte Identitätssuche zu gehen. Die Russen haben jedoch bei den Parlamentswahlen im vergangenen Dezember gezeigt, dass sie auf diese Selbstfindung verzichten, dass sie diese Aufgabe an einen Kriegspräsidenten und Vertreter der Stagnation delegiert haben. Diese Haltung bedeutet das Aus des Reformprozesses. Man ist nicht auf dem Weg zu Demokratie und Freiheit, wie holperig und mühselig auch immer. Man ist am Ziel angekommen. Es wird sich nichts zum Besseren wenden.

Das neue Russland ist eine unvollendete Gesellschaft. Es scheint sich ruckartig, manchmal blutig ausschlagend vorwärts zu bewegen, um dann wieder mindestens einen Schritt zurückzugehen und lange auf der Stelle zu treten.

Um die Widersprüche zu verstehen, muss man sich mit der russischen Mentalität auseinandersetzen. Eins der größten Missverständnisse, dem wir Westler immer wieder aufsitzen, ist die Vorstellung, dass das postkommunistische Russland zu Europa gehört.

Die meisten Russen sehen aus wie wir, hellhäutig und -haarig. Sie gehören einer christlichen Kirche an, uns sind die Bücher ihrer großen Dichter aus der Schule vertraut, in der Geografie hört Europa am Ural auf. Und beharren die jungen (urbanen) Russen nicht immer darauf, „europäisch“ zu sein?

Mit „europäisch“ meinen sie „zivilizovannije“ – zivilisiert. Sie glauben, Bezugspunkte im gesellschaftlichen Zusammenleben, im politischen und wirtschaftlichen System zu haben, die sich mit unseren vergleichen lassen. Doch die Unterschiede sind gewaltig. Russland ist kultiviert, aber nicht zivilisiert. Unsere westeuropäische Zivilgesellschaft verdanken wir einem Geschichtsverlauf, von dem Russland so gut wie unberührt blieb.

Seit dem Mittelalter haben wir ständig Rationalität „akkumuliert“ (Renaissance, Reformation, Aufklärung). Unsere Mentalität, Institutionen und Alltagskultur sind davon geprägt. Wir haben ein Bild davon, wie unsere Gesellschaft funktioniert, was sie zusammenkittet und welchen Platz wir als Individuen darin haben. (2) Und besonders wichtig: Wir haben eine Vorstellung von der Bedeutung des Rechtsstaats. (3) Während Russland bis heute die Macht heiligt, sind es im Westen Recht und Eigentum, auf denen unser Wertesystem ruht.

Während im Westen jeder Mensch sich auf Persönlichkeitsrechte berufen kann, verstehen die meisten russischen Bürger die Verfassung bis heute nicht als etwas, was für sie geschrieben ist. Sie erfahren sich vielmehr als Objekt von staatlicher Gewalt. So war es in der feudalistischen Zaren-Ära, in der autoritären Sowjetzeit, und so fühlen sie sich auch heute noch. (4) Es gab nie eine aufklärerische Bewegung, die die ganze Gesellschaft erfasst hätte. Und seit Peter dem Großen ist noch jeder Reformprozess im Ansatz stecken geblieben.

Das Dilemma ist, dass westliche Definitionen von Reform für Russland nicht taugen, wie es sich inzwischen sogar bei den hurrakapitalistischen Analytikern im Westen herumgesprochen hat. Jahrelang hatten westliche Regierungen und der Internationale Währungsfonds (IWF) Mantra-artig vorgebetet, dass „am Reformkurs festgehalten werden muss“.

In der Kohl-Ära kam niemand darauf, Parallelen zwischen Nachkriegsdeutschland und dem postsowjetischen Russland zu ziehen. Ein Entwicklungsplan wäre Anfang der 90er-Jahre aber hilfreich gewesen, um Russland äußerlich wie innerlich neu zu ordnen. Damals, Anfang der 90er-Jahre, war die Öffentlichkeit in Russland bereit, Dialoge einzugehen, auf Ratschläge zu hören. Im Westen fixierte man sich aber auf den Aufbau einer Marktwirtschaft, nicht einer Zivilgesellschaft. Eine große Chance wurde vertan.

Und nun, vor der Wahl des neuen Präsidenten können wir festhalten: Russland ist etwas Eigenes zwischen Europa und Asien. Unberechenbar, Mythen-vernarrt, extrem. Was Ausländer immer wieder erleben: den oft devoten Respekt vor Europa, vor dem Westen, daneben die heimliche Verachtung, weil wir Westler von den existenziellen Dingen, von Überleben und Tod, nichts verstehen. In ein und derselben Person treffen wir oft auf einen Überlegenheits- und Minderwertigkeitskomplex gleichzeitig.

Weit verbreitet ist der Glauben an den „dritten Weg“ Russlands, die Absage an den Materialismus und Konsumismus Europas, das Beharren auf spiritueller Besonderheit. Darin wurzelt auch Putins paternalistischer Patriotismus: Menschenrechte, individuelle Freiheit und Toleranz sind in Wirklichkeit egoistisch und spalterisch. Nur die Solidargemeinschaft der Russen (genauer: der Slawen) verheißt Erfüllung und Sicherheit.

Putin weiß, dass seine Wähler die Jelzin-Ära als Epoche moralischer Verwirrung erlebt haben. Sie fürchten sich vor der Zunahme der Kriminalität, vor dem Werteverlust. Sie sehnen sich nach Eindeutigkeit, daher auch das Faible für „starke Männer“, für „Erlöser“. Was für uns Westler zur Selbstverständlichkeit geworden ist, nämlich Ambivalenzfähigkeit, die Bedeutung von Pluralismus, Streit- und Kompromisskultur, ist in Russland nicht angekommen.

Wer lang genug in Russland lebt, spürt immer wieder eine gewisse Gleichgültigkeit, ja, Herzlosigkeit. Diese Erfahrungen sind nicht vereinbar mit dem Klischee der russischen Seele, die wir so lieben. Während im Kaukasus Tschetschenen und Russen abermals sterben, hörten wir nur vereinzelte empörte Stimmen wie die des Menschenrechtlers Kowaljow oder des Komitees der Soldatenmütter. (5)

Ein Bevölkerung von 230 Millionen Menschen, und es kommt keine Friedensbewegung zustande. Erschütternd, welche Schwierigkeiten Gruppen wie amnesty international, Human Rights Watch, Memorial oder internationale Hilfsorganisationen bekommen, wenn sie einfach arbeiten wollen. Mitmenschlichkeit, das habe ich oft erlebt, gilt in Russland als Schwäche. Wie sonst lässt sich erklären, dass Präsident Putin sich weigert, UN-Beobachter und Hilfsorganisationen nach Tschetschenien einreisen zu lassen, eine so simple Geste des guten Willens? (6) Wenn der deutsche Außenminister Joschka Fischer oder seine Amtskollegin, die US-Amerikanerin Madeleine Albright, verkünden, man solle trotz der bedauerlichen Tschetschenien-Politik Putin doch „eine Chance geben“, dann verdrängen sie, dass sich in diesem Mann Hybris, Unerfahrenheit und Härte schon jetzt gefährliche Zerreißproben liefern.

Putin und alle anderen postsowjetischen Russen sind dazu verdammt, den ungeheuren Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu lernen. Und sie werden behindert durch die Nostalgie – eine Kraft, die weiterhin die russische Psyche umtreibt. Die Nostalgie bewirkt, dass Millionen sich nach der Ordnung sehnen, die unter Stalin herrschte, und dass sie die Erinnerung an die verlässlichen Wurstpreise unter Breschnew beschwören, sobald ihnen die Regierung mal wieder nicht passt.

Ihre Identität wurde geprägt von der Vision einer klassenlosen Gesellschaft (zumindest äußerlich klassenlos). Inzwischen kann jeder verarmte, erschöpfte Russe hautnah die Realität der postkommunistischen Gesellschaft erleben: unterschiedliche Besitzverhältnisse und unterschiedliche Lebensstandards. Die neue Klassengesellschaft ist obszön sichtbar, da werden Neid und Groll zu Charaktermerkmalen der Verlierer.

Die Nostalgie lässt viele Russen die Angst und den Respekt zurückwünschen, die das sowjetische Atomarsenal einst im Westen hervorrief. Sie sehnen sich nach der Überschaubarkeit des Kalten Krieges und mögen Putins eindeutige Feindbilder, zur Zeit eben die Tschetschenen. Hinzu kommt die Sehnsucht nach dem alten Imperium.

Anfang der 90er-Jahre Sowjetbürger zu sein – das hatte nichts mehr mit Ideologie zu tun. Sondern mit der Gewissheit, auch in obskuren Orten in Mittelasien auf Russisch verstanden zu werden, im Sommer auf die Krim zu fahren, für Tiblissi genauso wenig ein Visum zu brauchen wie für Riga. Und nun sind Familien geografisch, politisch und ökonomisch getrennt. 25 Millionen Russen sind nach dem Zusammenbruch von Sowjetbürgern zu „Auslandsrussen“ geworden. Die Menschen hatten 1991 nur die Wahl zwischen einem kontrollierten oder unkontrollierten Zusammenbruch.

Auch im Jahr 2000 fehlt weiterhin alles, um eine Zivilgesellschaft zu stützen (7): vernünftige Gesetze, verantwortungsvolle Politiker und Unternehmer, ein verankerter Rechtsstaat, Bürger mit eigenen Zielen. Daran ist vor allem Boris Jelzin schuld, der Politik vor allem auf die Zerschlagung des Kommunismus und den Machterhalt einzelner Cliquen reduzierte. Der Analytiker Andrej Poniatowski schrieb: „Der entscheidende Grund für die russische Misere ist schlicht die Abwesenheit einer echten politischen Elite. Die gesamte politische Klasse Russlands, von der Präsidentenfamilie über die Regierung, liberale Ökonomen, rote Fabrikdirektoren und Oligarchen, ist mit einer Orgie der Selbstbereicherung beschäftigt, auf Kosten des Staates, ohne Reue und Rücksicht.“ Daran hat sich nichts geändert, und auch Putin ersetzt Politik durch einen Krieg.

Mag Wladimir Putin noch so oft Demokratie und Freiheit versprechen – wer würde sich auch das Gegenteil trauen! –, Russland wird in die politische Stagnation eintreten. Wie zur Breschnew-Zeit, nur diesmal mit demokratischem Vorzeichen wie Medienvielfalt, Reisefreiheit und vollen Regalen. Die Stagnation hat Spielarten: ein oberflächlich demokratisierter Staat, von Konzernen kontrolliert, mit einer superreichen Elite und einer verarmten Bevölkerung, die sich mit allem abfindet. Oder ein hurrapatriotischer Staat, nach außen abgeschottet und nach innen kontrolliert von der slawischen Idee, der Kommandowirtschaft und den Geheimdiensten.

Bei der Aufregung um Russlands Erlöser, den unverbrauchten Wladimir Putin, ging etwas unter. Noch als Ministerpräsident feierte er tatsächlich den Jahrestag der Schaffung der ersten sowjetischen Geheimpolizei unter Lenin. Die Tscheka, der NKDW, der KGB – verantwortlich für millionenfachen Tod und Terror –, alles preiswürdige Institutionen. Das hätte sich weder Jelzin noch Breschnew getraut.

Anmerkungen von taz-Osteuropa-Redakteurin Barbara Oertel

1 Da ist Wladimir Putin immerhin schon weiter als sein Vorgänger Boris Jelzin. Der hatte kurz nach seiner Wiederwahl im August 1996 einen landesweiten Wettbewerb für eine neue russische Staatsidee ausgeschrieben. Vorschläge wurden von den Redaktionen der wichtigsten Tageszeitungen entgegengenommen. Zwar wurde ein Preisträger gekürt, was aus seiner Idee wurde, ist hingegen nicht überliefert.

2 Ausländer in westlichen Gesellschaften wie der Bundesrepublik, wo Übergriffe auf Minderheiten keine Ausnahme sind, dürften ihre Zweifel daran haben, ob die westliche Mentalität wirklich von der Aufklärung geprägt ist.

3 Andererseits hat Altkanzler Helmut Kohl die Vorstellung in der Bevölkerung vom Rechtsstaat gerade stark erschüttert.

4 Sicher ist es richtig, dass die Mehrheit der Russen Gesetze und das Gerichtswesen als etwas Bedrohliches und Negatives, hingegen Menschenrechte allenfalls als etwas wahrnimmt, was ihm der Staat gnädigerweise gewährt. Doch nicht zuletzt die Studie von Christian Schmidt-Häuer „Russland im Aufbau. Innenansichten aus einem rechtlosen Reich“ aus dem Jahre 1993 zeigt, dass sich auf dem Gebiet der Rechsstaatsentwicklung und der Verankerung des Rechtsbewusstseins einiges getan hat. Dass dieser Prozess noch lange dauern wird, steht jedoch außer Zweifel.

5 Der Menschenrechtler und Kriegsgegner Sergej Kowaljow hat in einem Interview mit der taz im Dezember vergangenen Jahres auf die Schwierigkeiten von Kritikern verwiesen, sich in Russland Gehör zu verschaffen. Ihm selbst gelang es nur unter größten Anstrengungen, sich über einige Sender an die Öffentlichkeit zu wenden. Abgesehen davon wird über Friedensinitiativen auch in westlichen Medien kaum berichtet.

6 Die Weigerung Wladimir Putins, UN-Beobachter und Hilfsorganisationen nach Tschetschenien einreisen zu lassen, ist meines Erachtens nicht als Beleg für mangelnde Nächstenliebe und Humanität in der russischen Gesellschaft anzusehen. Hier geht es vielmehr darum, Kriegsgräuel und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor der Öffentlichkeit zu verbergen.