Bin ich noch drin?

Der Urbanistik-Reader „Die Stadt als Beute“ analysiert, wie sich der städtische Raum unter dem Druck von Wirtschaft, Standortpolitik und Innerer Sicherheit zur lebensberuhigten Zone verwandelt

von JOCHEN BECKER

Die Fackel der Aufklärung ist abgelegt. Nun hält die Statue der Freiheit einen Schrubber in der Faust. „Aufräumen wie in New York? Gegen Verbrechen, Drogen und Dreck in deutschen Städten“ lautete der bahnbrechende Spiegel-Titel im Sommer 1997, der die „zero tolerance“-Kampagne der New Yorker Verwaltung in den bundesdeutschen Diskurs einzuführen versuchte. Hier setzt „Die Stadt als Beute“ als summarischer Überblick und kritische Analyse an. Der Reader wurde von der Stadtforschungsgruppe spacelab – Walther Jahn, Stephan Lanz und Klaus Ronneberger – zusammengetragen. Ihr Taschenbuch bettet den Exportschlager „Null Toleranz“ ein ins stadtpolitische Szenario eines bundesrepublikanisch-neoliberalen Wettbewerbsstaates: Ordnungsdiskurs, Innere Sicherheit und selektive Aufwertung der Städte schreiben die hierarchische Spaltung der Gesellschaft auch räumlich fest.

So offeriert das Buch einen Schnelldurchlauf durchs Bundesgebiet: Die „Bahn kommt in die Stadt“ heißt es da, wenn die aus deutsch-deutschem Staatsbesitz heraus privatisierte Deutsche Bahn AG sich selbst als „Motor der Stadtentwicklung“ bezeichnet. Am Rande Frankfurts erwächst eine Airport-City, mit der größten Arbeitsplatzdichte noch vor dem VW-Stammwerk in Wolfsburg. Die Innenstädte entwickeln sich mehr und mehr zu reinen Orten des Konsums oder des Tourismus. Zugleich dient die Innenstadt aber auch zunehmend dem Lebenserhalt marginalisierter Gruppen. Diese sollen jedoch aus den Verkaufszonen herausgetrieben werden, „bestrebt, die Zentren dem suburbanen Mall-Modell anzupassen“, wie die Autoren von „Stadt als Beute“ schreiben.

Reinigungsgeräte gegen Unerwünschte

Bauliche Umgestaltung, der Einsatz von Polizeistreifen sowie Kameraüberwachung des öffentlichen Raums unter privatwirtschaftlichen Vorzeichen werden ebenfalls als Konsequenzen von Privatisierung und „Vermeidungsstrategien“ festgemacht. Die zynischen Formulierungen etwa der Immobilien-Zeitung scheinen als Zitatenschatz zur Raumkontrolle unerschöpflich: So habe sich „herausgestellt, dass helle, freundliche und saubere Anlagen ein bestimmtes Publikum abschrecken“. Verdrängung „erfolgte in erster Linie dadurch, dass Wachleute entsprechend eingekleidet und mit Reinigungsgeräten versehen wurden. Diese haben sich alsdann stets in unmittelbarer Nähe unerwünschter Personen zu schaffen gemacht und deren ungestörten Verbleib behindert.“ So weit das Fachblatt.

„Ende der Ausbaustrecke“ nennt sich das Kapitel zum Abschied vom Wohlfahrtsstaat. Sozialräumliche Gerechtigkeit, wie sie beispielsweise der Länderfinanzausgleich institutionalisiert hatte, wird zugunsten einer Konkurrenz der Regionen bis hinunter zu den Stadtteilen aufgekündigt. Denn selbst innerhalb der Gewinnerstädte driftet die Gesellschaft auseinander – die Beute der siegreichen Stadt wird nicht mal mehr aufgeteilt. So lebt im „Unternehmen Hamburg“ (Bürgermeister Klaus von Dohnanyi 1983) als reichster Metropole der Republik zugleich die ärmste Bevölkerung. Von hier aus gingen in den Neunzigerjahren erste „Armutsbekämpfungsmaßnahmen“ im quartierbezogenen Maßstab aus. Diese versprachen jedoch kaum mehr als placebohafte Kompensation.

Der allgegenwärtige Spardiskurs fungiert als neue Umverteilungs- und Herrschaftsform: Während Sozialbauten „abgeschmolzen“ werden, sollen in Berlins Mitte eigentumsfähige Schichten bevorzugt werden. Die „Normalbevölkerung“ möge so „slumgefährdete“ Bezirke zurückerobern. Verdrängung durch Gentrification – also Aufwertung durch luxusmodernisierte Quartiere – ist hierbei nicht unerwünschter Nebeneffekt, sondern häufig der eigentliche Zweck. Die lokale Politik fördert diese Prozesse, die sie früher als Yuppifizierung noch bekämpft oder zumindest kompensiert hätte. Eine sich abzeichnende exklusive Kopplung von Bürgerrechten und Eigentum, noch dazu in der „Mieterstadt“ Berlin, droht selbst hinter Sozialmodelle des 19. Jahrhundert zurückzutreten. Die Stadt als Integrationsmaschine, deren Luft frei machen sollte, hat offenbar ausgedient – das zumindest legt die Lektüre von „Stadt als Beute“ nahe.

Schattenökonomie, Zwangsflexibilisierung und Informalisierung sind die Kehrseite einer zunehmend marktförmigen Regulation städtischer Politik. Wenn „Städte wie unternehmerische Kampfeinheiten“ geführt werden, entwickeln sich ihre Fußgängerzonen, Bahnhofsvorplätze und Sozialbausiedlungen zum umkämpften Terrain. Repressive Ordnung, robustes Hausrecht und kollektive Kehrwoche gelten jetzt für die ganze Stadt, wobei Persönlichkeitsschutz oder das Recht auf Unversehrtheit der Privatsphäre zur Disposition stehen. Zunehmend überlappen sich die privatwirtschaftlich kontrollierten Innenstadträume (Bahnhof, Vorplatz, Einkaufszentrum, Fußgängerzonen, Außengastronomie, „Gefährliche Orte“, Nahverkehr, etc.), sodass man oft gar nicht mehr aus wechselnden Hausrechtsbeziehungen heraustreten kann. Die Wohnviertel jenseits der Innenstädte wiederum werden durch selbst ernannte Bürgerwehren, Sicherheitswachten, Quartiermanager oder Präventionsräte auf Trab gehalten. Und auch hier kommen zur Zwangsarbeit abgestellte SozialhilfeempfängerInnen zum Kehreinsatz. Denn nach angloamerikanischem Muster soll Wohlfahrt durch workfare ersetzt werden: aufräumen wie in New York.

Was normal ist,bestimmt die Verwaltung

Das Buch stellt dabei die Frage nach den Macht- und Gewaltverhältnissen einer „großen Koalition der Inneren Sicherheit“. „Schleierfahndung“ und „Aktion Sicherheitsnetz“ dienen der Kontrollpolitik einer immer weiter nach innen gezogenen Grenze, bei der an Verkehrsknotenpunkten auf Betreiben des Ex-Innenministers Kanther „verdachts- und ereignisunabhängige Identitätskontrollen“ zugelassen sind. Dabei können unterschiedlichste Bundes-, Landes- und privatwirtschaftliche Sicherheitsdienste sowie die Verkehrsträger und Sozialbehörden Hand in Hand arbeiten. Das „subjektive Sicherheitsempfinden“ der Normalbürger als Maßstab politischen Handelns und eine allgemeine Verdächtigung aller davon Abweichenden („jede im öffentlichen Verkehrsraum angetroffene Person“) haben die juristischen Grenzen maßlos aufgeweicht. Staatlich sanktionierter Rassismus artikuliert sich in Kampagnen gegen Drogendealer oder vermeintlich kriminelle Ausländer. In der Mitte der Gesellschaft formulieren sich Entsolidarisierungseffekte, die eine durch Aufgabe des Finanzausgleichs angefeuerte Polarisierung flankieren: Bin ich schon drin, oder bleibe ich außen vor?

Als diskursive „Wiederkehr der gefährlichen Klassen“ wertet das Buch Debatten, in denen vor menschlichen „Zeitbomben in den Vorstädten“ gewarnt wird. Die in Berlin exemplarisch vorgeführte Kopplung aus empirischer Sozialforschung und Forcierung der sozialen Durchmischung misst sich an der Aufrechnung von Ausländeranteil, Krankheitsquote und Wohndichte. Den dabei lautstark ausgemachten „Problemquartieren“ soll ähnlich einem Land der südlichen Halbkugel „Hilfe zur Selbsthilfe“ zugeführt werden. Die erschütternde Anmerkung „Verhungern muss keiner“ – so ein führender Berliner Sozialpolitiker – markiert die aktuellen Substandards menschlicher Existenz: Was normal ist, bestimmt die Verwaltung.

Das letzte Kapitel „Auf dem Weg zur neofeudalen Stadt“ formuliert hierzu die aktuellen Konfliktlinien einer als Unternehmen geführten Stadt. Denn im Unterschied zu den USA operiert in der Bundesrepublik zeitgleich ein „philanthropisch-karitativer Sozialkomplex“ aus Wohlfahrtsverbänden und kirchlichen Einrichtungen, die die Produktion von Opferbildern durchaus als „Kultur der sozialen Probleme“ pflegen. So zählt allein die Caritas mit über 400.000 Beschäftigten zu den größten Privatunternehmen des Landes.

Die komplexe Durchsetzung des Neoliberalismus, die sich auf der Ebene städtischer Vergesellschaftung vollzieht, führt als roter Faden durch „Die Stadt als Beute“. Das Soziale wird in Privat-Public-Partnership von Politik und Wirtschaft „primär als Problem ordnungspolitischer Regulierungskonflikte definiert“, dem der „philanthropisch-karitative Sozialkomplex“ Zugeständnisse abringt. In diesem Szenario kommen soziale Bewegungen kaum mehr zu Wort. Doch gerade aus der aktiven Arbeit der Autoren an der „InnenStadtAktion gegen Privatisierung, Ausgrenzung und Sicherheitswahn“ speisen sich viele der im Buch gebündelten Erkenntnisse. Durch den angenehm nichtwissenschaftlichen Ton bis hin zu den poppigen Kapitelüberschriften und Neologismen, der den Forschungshintergrund dennoch nie leugnet, ist die „Stadt als Beute“ ein zentrales Handbuch für den Widerstreit.

Walther Jahn, Stephan Lanz, Klaus Ronneberger: „Die Stadt als Beute“, Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 1999, 240 Seiten, 24,80 DM.