Insulaner wollen Franzosen bleiben

Die Mehrheit der Abgeordneten der korsischen Territorialversammlung fühlt sich als „kulturelle und linguistische Gemeinschaft innerhalb der französischen Republik“. Sie wollen nun einen Schlussstrich unter den blutigen Befreiungskampf ziehen

von DOROTHEA HAHN

Im letzten Moment sagte die Territorialversammlung auf Korsika „basta“. Anders als die Nationalisten, die seit zweieinhalb Jahrzehnten mit Erpressungen, Sprengladungen und Morden für die „Befreiung“ ihrer Insel kämpfen, stimmte eine quer durch alle traditionellen politischen Lager gehende Mehrheit der Abgeordneten am Freitag für den Verbleib Korsikas in Frankreich. „Die Korsen bilden eine kulturelle und eine linguistische Gemeinschaft innerhalb der französischen Republik“, heißt es in ihrem Papier.

Das korsische Dilemma ist damit wieder einmal nach Paris verschoben. Auf dem Tisch von Premierminister Lionel Jospin liegen zwei Vorschläge: Jener, der jetzt die Mehrheit in der Territorialversammlung fand, sowie jener der unterlegenen „Nationalisten“, „Korsisten“ und eines Teils der rechten und linken Inselpolitiker, die die Weichen in Richtung einer Unabhängigkeit stellen wollen. Dabei hatte Jospin klare Signale erwartet, als er am Ende vergangenen Jahres einen Dialog eröffnete, der in der französisch-korsischen Geschichte einmalig ist. Er lud Politiker sämtlicher im Territorialparlament vertretenen Parteien zu sich ein – darunter auch die Nationalisten. Mit sieben von 51 Abgeordneten stellen sie zwar die zweitstärkste Fraktion in Ajaccio, doch bis dato hat kein französischer Spitzenpolitiker je öffentlich mit ihnen verhandelt. Der Grund: Die „legalen“ Nationalisten haben nie die bewaffneten Kämpfer verurteilt.

Jospins Rechnung schien aufzugehen. Bereits wenige Stunden nachdem die Bilder von dem historischen Händedruck zwischen dem Premierminister und den Nationalisten über die Bildschirme geflimmert waren, hielten mehrere Untergrundgruppen nächtliche Pressekonferenzen auf Korsika ab, in denen sie maskiert und schwer bewaffnet ein paar handverlesenen Journalisten erklärten, sie würden „vorübergehend“ die Waffen niederlegen. Statt der Untergrundkämpfer sprechen seither Männer in Uniform und Krawatte für die Nationalisten. Graffiti auf den Inselmauern wie: „Korsika = Kosovo“ und Elogen auf den bewaffneten Befreiungskampf wurden überpinselt. Im Hauptquartier der größten Nationalistenorganisation, „Conculta“, entwarf man Szenarien für das neue Korsika.

Unter die blutigen Auseinandersetzungen der Vergangenheit wollen sie einen Schlussstrich ziehen. Statt Justiz verlangen sie eine Generalamnestie für alle „korsischen Patrioten“. In die Zukunft gerichtet machten sich die Nationalisten stattdessen Gedanken darüber, wer Anrecht auf die künftige korsische Staatsangehörigkeit habe. Jener Hälfte der 240.000 Inselbewohner, die nicht korsischer Abstammung ist, boten sie großzügig an, sie könnten „bleiben, wenn sie sich in die korsische Schicksalsgemeinschaft einfügen“. Auch die linguistische Orientierung auf der Insel stand zur Debatte. Laut Yves Bourdiec, Chefredakteur des nationalistischen Zentralorgans U Ribombu, wird Korsisch die künftige Amtssprache, gefolgt von Englisch als erster Fremdsprache. Französisch möchte der aus der Bretagne stammende Bourdiec „zur Privatsache machen“.

Empfindlich auf Jospins Dialog mit den „legalen Vertretern“ der selbst ernannten Befreiungskämpfer reagierten jene Korsinnen, die seit Mitte der Neunzigerjahre im „Manifeste pour la vie“ versuchen, die Gewalt auf ihrer Insel zu stoppen. In einem offenen Brief drängen sie jetzt Jospin, die Macht und die finanzielle Kontrolle über die Insel „nicht bewaffneten Banden zu übergeben“. Auch eine Amnestie lehnen die Frauen vom „Manifeste“ strikt ab. „Die Justiz ist nötig, um Vendetta – Rache – zu verhindern“, argumentieren sie.