In der tristen Schule erwacht

Als der „Runde Tisch Bildung“ der DDR seine Arbeit begann, war ihm keine Vision zu fern. Jetzt trafen sich die Kämpfer für unversehrte Bildungsrechte – und die böse Schulrealität interessierte nicht mehr
von CHRISTIAN FÜLLER

Was soll ich machen“, sagt Christa T. ratlos über ihre Schüler. „Ich müsste Ihnen doch allen eine Vier geben.“ Die Pennäler der DDR-Lehrerin T. haben eine Klassenarbeit über eines „der Pflichtthemen jener Jahre“ geschrieben. „Bin ich zu jung, meinen Beitrag für die Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft zu leisten?“, lautet die Frage, und die jungen Menschen erzählen Märchen. Wie selbstverständlich spulen sie die Propagandaphrasen der Sozialistischen Einheitspartei herunter.

Darüber kommt die junge Lehrerin Christa T. nur schwer hinweg. Es graut ihr vor der Abgebrühtheit und der Routine der Schüler. Trotz ihrer Jugend sind sie fantasielose Tatsachenmenschen, die sie naseweis über „gewisse Spielregeln des Lebens“, sprich Anpassung, aufklären. Die zur Veränderung, Verbesserung der Situation in der DDR also kaum etwas beitragen können.

Das ist eine Episode aus Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ Wahrscheinlich haben alle, die sich vergangenen Samstag in Potsdams Haus der Begegnung zum Rückblick auf zehn Jahre „Runder Tisch Bildungspolitik“ eingefunden haben, das Buch gelesen. Auch sie leiden an Christa T.s Zwiespalt, dem zwischen Utopie und Realität. Hier haben sich Bürgerrechtler versammelt, die zum Untergang der DDR einen gehörigen Teil beigetragen haben. Am 5. März 1990 verabschiedeten sie ein von hehren Prinzipen durchtränktes „Positionspapier des Zentralen Runden Tisches zu Bildung, Erziehung und Jugend“. Aber geblieben ist davon nicht viel. Oder?

„Wir wollen sehen“, formuliert die Tagungsleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung, „ob sich das Bildungswesen so verändert hat, wie wir es uns erträumt haben.“ Zu Träumereien gibt es derweil keinen Anlass, allenfalls dazu, sich einer wunderbaren Übergangsphase zu erinnern. Zwischen dem Kollaps der SED-DDR Ende 1989 und der ersten frei gewählten Volkskammer im März 1990 habe es „unglaubliche Freiheiten“ gegeben, ist man sich einig. Es müssen Monate des Glücks gewesen sein.

Die Augen der Bürgerrechtler leuchten, als die Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, Gunda Röstel, die Zeiten beschreibt, in denen es kein Schulgesetz gab, in denen „wir die Zeit genutzt haben, um eine lebendige Schule von unten zu machen“. Röstel war, ist selbst Lehrerin, und sie wurde damals zur Schulleiterin gewählt – wie fast alle Rektoren in der Zwischenwendezeit. So viel Demokratie war nie.

Auch danach nicht. Denn plötzlich „wachten wir in den Schulstrukturen von Bayern und Baden-Württemberg auf“, sagt Röstel, und wieder glaubt man eine Einigkeit im Saal zu bemerken – darüber, wie furchtbar alle die Westschule finden, die staatlich streng regulierte Lehranstalt.

Das Lamento über die „übergestülpten Weststrukturen“ hält sich dennoch in Grenzen. Das hat mit der Situation zu tun, die man inzwischen im eigenen Land vorfindet, in Brandenburg zum Beispiel oder in Sachsen-Anhalt, in Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Wegen des Wende-Geburtenknicks gehen den Ostschulen die Schüler aus. Und die Kids, die da sind, machen oft wenig Freude. Autoritäre, fremdenfeindliche, ja offen rechtsextreme Gesinnungen sind unter vielen Schülern schwer in Mode.

Größer könnte der Zwiespalt nicht sein zwischen dem, was man einst wollte, und dem, was man heute vorfindet. Die Bürgerrechtler forderten am Zentralen Runden Tisch der DDR „die Sicherung des Rechts auf soziale Geborgenheit und emotionale Zuwendung von Geburt an“. Heute sind sie froh, wenn die „national befreiten“ Zonen nicht größer werden als die zivilgesellschaftlichen Hoheitsgebiete. „Wir haben die Brisanz dieser Entwicklung von Gewalt und Rassismus nicht gesehen“, gesteht eine Diskutantin. Ihr Versuch aber, die Debatte damit auf aktuelle Fragen zu lenken, misslingt. Konkret kommt die heutige Bildungssituation im Haus der Begegnung nicht zur Sprache. Hier werden, im Rückblick, Visionen erläutert, interpretiert, zurechtgestutzt.

„Ich beharre darauf zu sagen: Das meiste ist gelungen“, kommentiert Marianne Birthler die Umsetzung der Runde-Tisch-Ideen. Die immer noch sehr prominente und beliebte erste Bildungsministerin Brandenburgs repräsentiert die positive Variante des Erinnerns. Ihr ehemaliger Staatssekretär und heutige Kultusminister von Sachsen-Anhalt, Gerd Harms, gibt sich abgeklärter: „Wir dürfen das Erreichte nicht an den Visionen von damals messen.“

Damit ist freilich auch klar: Impulse für eine Reform des gesamtdeutschen Bildungswesens werden von hier nicht ausgehen. Gunda Röstel formuliert zwar „Herausforderungen an die Bildung von morgen“. Aber ihr Beitrag ist zugleich ein Symbol für das Scheitern der Ostreformer: Einen Tag nach ihrem emphatischen Auftritt in Potsdam wird sie ihr Amt als grüne Parteisprecherin zur Verfügung stellen.

Dass es einen Bildungsaufbruch aus dem Osten nicht geben würde, lässt sich schon an dem 1990er Papier ablesen. Jan Hofmann, im März 1990 selbst einer der Teilnehmer am Runden Tisch, hat darüber eine Doktorarbeit verfasst. „Wir wollten aus dem vormundschaftlichen Staat entlassen werden“, berichtet er über die damalige Forderung nach Entideologisierung der Schule von Volksbildungsministerin Margot Honecker. „Aber wir haben alle unsere Ansprüche auf Finanzierung und Organisation der neuen Schulen dann doch wieder an den Staat gerichtet.“

Was bleibt vom Nachdenken über den Runden Tisch? Kein Jammern, wie so oft. Wenig Grübeln einer Christa T. darüber, was der Welt zur Volkommenheit fehle. Sondern das trotzige Gedenken der Marianne B. „Unsere Generation hat die DDR abgeschafft. Aber statt stolz zu sein, kriegen wir Migräne.“

Zitat:

„Ich beharre darauf:Das meiste ist gelungen“