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: Das sind die Spielregeln

Jeder kennt jeden, es gibt keine Geheimnisse: „Big Brother“ ist wie Ausgehen in Berlin

Die nun wieder. Otto Schily sieht die Würde des Menschen angetastet, Roland Koch meint, in dem Kandidatenmaterial eine Verwandschaft zu Labormäusen zu erkennen, und auch Dagmar Schipanski findet „Big Brother“ ganz schlimm. Aber um das an dieser Stelle noch einmal festzuhalten: „Big Brother“ ist natürlich aus verschiedensten Gründen super, zum Beispiel ist es ein bisschen so wie Ausgehen in Berlin. Jeder kennt jeden, man steht unter ständiger Überwachung, und es gibt keine Geheimnisse. Im Grunde passiert auch nie etwas Aufregendes, doch stets sieht es aus, als könnte etwas Aufregendes passieren, was die ganze Sache gewissermaßen noch aufregender macht. Jeden Abend an jedem Tag.

Irgendwann hebt sich dann der Morgen, schon greifen alle nach ihren Sonnenbrillen, aber keiner möchte sich verabschieden. Jedenfalls nicht zuerst. Der eine sagt: „Ich kann nicht mehr!“ Und die andere sagt: „Wenn’s am Schönsten ist, soll man gehen!“, und beide bleiben sitzen. Das liegt entweder an den Drogen oder dem Durchhaltewillen. Vielleicht geht man noch zu jemandem nach Hause und verwüstet kurz die Wohnung. Am nächsten Abend haben dann alle Schnupfen, wirklich amüsiert hat sich niemand, und einer muss sein Zimmer aufräumen. Wer bis zum Schluss geblieben ist, hat zwar nach ideellen Gesichtspunkten gewonnen, bekommt aber keine 250.000 Mark. So sind die Spielregeln. Deshalb ist „Big Brother“ sogar besser.

Und die zehn „Big Brother“-Kanditaten haben Glück, sie treffen immerhin auf Leute, denen sie noch nie begegnet sind. Das passiert einem im Alltag bekanntlich nur selten, eigentlich sogar nie. Und auch die Zuschauer können davon profitieren, zum Beispiel lernen sie Thomas kennen, 23 Jahre alt und Informatikstudent aus Iserlohn. Wie man im „Big Brother“-Piloten am Donnerstag sehen konnte, ist Thomas einfach ein Supertyp. Er trifft sich gern mit seinen Freunden, er nennt sie zärtlich „die Chaoten“ und sagt, er werde sie vermissen.

Thomas trägt gern sandfarbene Jeanshosen mit sandfarbenen Jeansjacken und gelt sein Haar zu einer modernen Igelfrisur. Eine offenbar selbst angefertigte Homer-Simpson-Zeichnung ziert in seiner Studentenbude die Wand, was so viel sagt, dass Thomas ein humorvoller Mensch ist.

Allein wegen Thomas durfte ich während des „Big Brother“-Piloten wenigstens fünf Telefongespräche führen, fassungslose Anrufer schütteten seltsam bewegt ihr Herz aus: Thomas! Iserlohn! Krass! Die Welt war irgendwie aus den Fugen, ein Weltbild war für immer zerstört, die blasse Existenz eines durchschnittlichen Informatikstudenten geriet zur Sensation eines vermeintlich gewöhnlichen Abends. Doch „Big Brother“ ging auf Sendung, und die Sehgewohnheiten waren verändert und der Horizont plötzlich erweitert. Alles, was RTL 2 versprochen hatte, schien auf wundersame Weise richtig und wahr.

Und auf der anderen Seite: Man redet wieder miteinander. Leute, die sich schon längst alles gesagt haben, wissen sich wieder etwas zu erzählen, mindestens für die nächsten hundert Tage. „Big Brother“ ist also nicht nur abstrakt betrachtet wie Ausgehen in Berlin, ganz praktisch funktioniert es auch wie Ausgehen ohne auszugehen. Man spricht über Menschen, die man sieht, fällt ungerechte Urteile, psychologisiert und prognostiziert.

Bald werden sie zu guten Bekannten, zu Freunden der Nacht. Nur sitzt man dabei zu Hause, schaut auf den Bildschirm, hält das Telefon in der Hand und muss kein Bier trinken. Man atmet bessere Luft. Und wenn es nervt, kann man umschalten. Doch wer zuerst zur Fernbedienung greift, ist draußen. Die Spielregeln, Sie wissen schon.

Harald Peters