Historischer Elendstourismus

Sauberes Qualitätskino mit sozialem Anspruch hat bei Alan Parker seinen Preis:„Die Asche meiner Mutter“ häuft Armut auf Whiskey auf Dauerregen. In irischer Ewigkeit

Lustig war anno 1937 allein die Beichte: Einmal Masturbationsrapport statt Kartoffelmangel

Von Flann O'Brien gibt es ein schönes Buch mit dem Titel „Irischer Lebenslauf“ oder auch „Das Barmen“. Es ist eine arge Geschichte vom harten Leben. Der delirierende Singsang des Erzählers wiederholt darin gebetsmühlenhaft die Worte „schwere Zeiten“, „Armut“, „Trunkenheit“, „geistige Getränke“ und „Kartoffeln“. Darum geht es dann auch. Weitere Schlüsselbegriffe sind die „Ewigkeit“, zu der sich die irischen Hungerleider jederzeit „rüsten“ sollten, ferner „Niederschläge“. Es ist eine böse Parodie auf den irischen Hang zu Vergangenheitsverklärung und Selbstmitleid mit dem erklärten Ziel, Bücher wie Frank McCourts „Die Asche meiner Mutter“ für immer unmöglich zu machen. Von Filmen ganz zu schweigen.

Als O'Brien seine Tirade 1941 veröffentlichte, erlebte nämlich der jungirische Gälenkitsch gerade seine erste Blütezeit. McCourt nun hat zugegeben, Bestseller- und Pulitzer-Ehren dem weltweiten Interesse an der irischen Kultur in den Neunzigern zu verdanken. Während dortselbst die „Anglification“ um sich greift, das Land boomt wie kaum ein anderes in der EU, und die einst von Roddy Doyle ans Licht gezerrten Dubliner Slums wieder in Vergessenheit geraten, hat der Auswanderer McCourt also Erfolg mit einem Buch über schwere Zeiten, Trunkenheit und Kartoffelmangel in Limerick anno 1935. Da steht der Vorwurf „Elendstourismus“ im Raum.

Diesem Vorwurf kam McCourt zuvor durch den Rückgriff auf einen derben schwarzen Humor, der ja seinerseits zum Geschäft mit irischen Mythen gehört. Doch gegenüber O'Briens stilistischem Kleinod – beide Werke wurden übrigens von Harry Rowohlt herrlich ins Deutsche übersetzt – haftet ihm ein entscheidender „Makel“ an, der den Erfolg brachte: der der Authentizität. „Die Asche meiner Mutter“ ist seine eigene Geschichte, und die ist nun mal nicht komisch, sondern furchtbar.

Da mag die ironische Distanz nach immerhin sechzig Jahren noch so groß und der Spott über die katholische Kirche noch so beißend sein: Wenn dem kleinen Frankie ein hungriges Geschwisterchen nach dem anderen wegstirbt, bleibt kein Auge trocken.

Alan Parker hat es so gut wie möglich vermieden, aus dieser Vorlage ein rührseliges Melodram zu zimmern. Doch deren Humor ist nun mal literarisch, auch wenn sich McCourts enervierendes Präsens wie eine Regieanweisung liest. Die besten Momente muss diese Sorte Literaturverfilmung zwangsläufig einem Off-Erzähler vorbehalten. Trotzdem bringt es der Film zu einigen sehr schönen Szenen, wenn Frankie selbst sprechen darf: bei der Beichte. Je älter er wird, desto öfter wird der Masturbationsrapport fällig. Die geilen Priester lauschen begierig. Und nach seiner Erstkommunion muss der Lauselümmel beichten, soeben den Herrgott in den Hinterhof gekotzt zu haben. Keine lässliche Sünde, da es doch außer Oblaten schier nichts zu beißen gibt.

Aber das war’s dann auch mit lustig. Vater Malachy (Robert Carlyle) versäuft seinen letzten Penny und Mutter Angela (Emily Watson) bettelt der Kirche ein paar Brotkrumen und einen Mund voll Milch für das Baby ab. Dazu schüttet es unaufhörlich, das Haus steht unter Wasser, und bei jeder Exmittierung droht die gebeutelte Familie im Regen zu stehen. Um mit Flann O'Brien zu sprechen: In ganz Irland gab es niemanden, der sich mit den McCourts in der Erlesenheit ihrer Armut messen konnte. Es wird ihresgleichen nie wieder geben. Das ist die wenig überraschende Botschaft dieses typischen Parker-Films. Wie immer liefert er sauberes Qualitätskino mit sozialem Anspruch. Dass dieser erneut ziemlich vage und ziellos bleibt, kann er auf Frank McCourt schieben, der sich vielleicht doch ein wenig zu viel Zeit gelassen hat. Von der nächsten Kartoffelkrise ist Irland jedenfalls weit entfernt, und über sinnlose Autoritätshörigkeit kann sich die einst mächtige katholische Kirche nach zahllosen Sexskandalen wahrlich nicht beklagen. Die eine Hälfte der Bürger von Limerick, die McCourt heute zum Teufel wünscht und Alan Parker gezwungen hat, vorwiegend in Cork zu drehen, ist damit genauso von gestern wie das ganze Projekt. Asche auf dein Haupt, Parkie!

So dürfte man diesen Film getrost in den Shannon kippen, wenn Parker nicht so verdammt gut mit seinen Schauspielern, vor allem mit Kindern umgehen könnte. Wie schon bei „Fame“ oder „Commitments“ war hier das Casting die halbe Miete. Sein größter Coup ist allerdings Emily Watson als superlässige Rabenmutter. Endlich einmal darf sie ihre Wahnsinnsausbrüche für sich behalten und dafür umso heftiger an ihrer Woodbine ziehen. Was es mit der titelgebenden „Asche“ auf sich hat, erfährt der solchermaßen benebelte Zuschauer aber erst in Frank McCourts Fortsetzung: „Ein total verqualmtes Land“ oder so ähnlich.

Philipp Bühler

„Die Asche meiner Mutter“. Regie: Alan Parker. Mit: Emily Watson, Robert Carlyle, Ciaran Owens. USA 1999, 145 Minuten