46 Prozent Insubordination

■ Selbstbewusst im Widerstand gegen Haider: In Österreich entsteht eine neue Diskussionskultur. Auch die Intellektuellen wollen jetzt lieber standhalten als boykottieren

Eine ungeahnte Diskussionswut ist das Verblüffende an der Entwicklung der vergangenen Wochen

Gérard Mortier bleibt. In einem Zeitungsinterview verkündete der amtierende Intendant der Salzburger Festspiele, er wolle sein Amt nun doch nicht, wie geplant, aus Protest gegen eine Beteiligung der rechtspopulistischen FPÖ an der Regierung vorzeitig niederlegen. Wenige Tage zuvor hatte bereits Silvain Cambreling, Chefdirigent des Klangforums Wien, des renommiertesten österreichischen Orchesters für die Interpretation zeitgenössischer Musik, seine Meinung geändert: Auch er wird Österreich nicht, wie geplant, verlassen.

Gérard Mortier bleibt. Gerade Mortiers Kehrtwendung darf als Signal verstanden werden: Seit Wochen hatten Künstler inner- und außerhalb Österreichs die Frage diskutiert, wie der Regierungsbeteiligung der rechten, sich ungeniert xenophob und aggressiv kunstfeindlich gerierenden Partei Jörg Haiders zu begegnen sei. „Gehen oder bleiben?“, lautete die Fragestellung, unter der beispielsweise das Burgtheater zwei Podiumsdiskussionen veranstaltet hatte, an denen prominente Künstler und Intellektuelle nicht nur Österreichs teilgenommen hatten: Am vergangenen Samstag hatten sich Bernard-Henri Lévy, Michel Friedman, Michel Piccoli und gut ein Dutzend weiterer Diskutanten bis ein Uhr morgens auf der Bühne des noch spätnachts brechend vollen Hauses versammelt. Gérard Mortier aber war in jenem Richtungsstreit der Künstler von Anfang an als Wortführer jener aufgetreten, die sich für einen Boykott des nunmehr „faschistischen“ Landes aussprachen. In diversen Zeitungsinterviews hatte er die dezidierte Gegenposition zu Luc Bondy, dem Intendanten der Wiener Festwochen, vertreten, der vor einer undifferenzierten Verurteilung Österreichs warnte und dazu aufrief, gerade als Reaktion auf nationalistische Töne internationale, kritische zeitgenössische Kunst nach Österreich einzuladen und der Enge der Lodenjankervolkstümlichkeit aktiven Widerstand entgegenzusetzen.

Nicht zufällig erfolgte Gérard Mortiers Einschwenken auf die Position Luc Bondys wenige Tage nach der österreichweiten Großdemonstration gegen die „Mascherl-Regierung“, wie das neue Kabinett auf Grund der Vorliebe des in jeder Hinsicht kleingewachsenen Bundeskanzlers für Mascherln (zu deutsch: Fliegen) um den Hals genannt wird. Die beeindruckende Zahl von über 250.000 Demonstranten allein auf dem Wiener Heldenplatz scheint Mortier den augen- und ohrenscheinlichen Beweis für die tatsächliche Existenz jenes „anderen Österreichs“ geliefert zu haben, das in seinem Widerstand gegen die ungeliebte Regierung internationaler Unterstützung bedarf.

Mortiers Kehrtwendung steht paradigmatisch für eine Haltung des Auslands, die trennt zwischen der rechten Regierung und ihren Wählern und den immerhin 46 Prozent der Bevölkerung, die das neue Kabinett entschieden ablehnen. Sie steht für die Erkenntnis, dass diese 46 Prozent des moralischen – und rhetorischen – Beistands bedürfen, um auf dem Weg einer für Österreich überraschend explosiv sich entwickelnden Diskussionskultur in Zukunft die absoute Mehrheit zu erringen. Jenes Erwachen einer ungekannten Argumentationswut nämlich ist für viele Beobachter das eigentlich Verblüffende an den Entwicklungen der vergangenen Wochen.

Überall und zu jedem Zeitpunkt wird diskutiert, argumentiert. Zeitungen erleben Auflagensteigerungen von bis zu 30 Prozent. Fernsehnachrichten werden drei Mal täglich verfolgt, damit man keine der darin gebotenen Live-Diskussionen versäumt. Es ist das abrupte Erwachen einer Gesellschaft aus der Apathie einer resignativen Subordination unter die Allmacht der herrschenden Parteien. Das Erwachen aus der Lethargie. Jahrelang hatte man tatenlos zugesehen, wie die einstige Sozialpartei SPÖ sich in dreißigjähriger Kanzlerschaft den Interessen der ärmeren Schichten ab- und den Unternehmern zuwandte. Wie sie in vorauseilendem Gehorsam einer vermeintlichen Vox Populi deren „rassistische Stimmung in administrative Praxis umgesetzt“ hatte, wie Johann Kresnik von Berlin aus kritisierte. Jahrelang hatte man tatenlos zugesehen und geschwiegen, der eigenen Machtlosigkeit bewusst. Nun erwacht dieses „andere Österreich“, eine Zivilgesellschaft jenseits der Parteien, Nicht-Regierungs-Organisationen werden gegründet, Versammlungen einberufen, Aktionen geplant und binnen Stunden dank Internet erfolgreich durchgeführt. Schüler begehren – in Österreich bislang undenkbar – gegen die ehrfürchtig als „Frau Professor“, „Herr Professor“ betitelten Lehrkörper auf und missachten das Demonstrationsverbot während des Unterrichts.

Die österreichische Gesellschaft entdeckt staunend ihr Selbstbewusstsein. Entdeckt sich als Opposition zum Staatsapparat. Entdeckt die Macht differenzierter Rhetorik. Denn nur der Habermas'sche „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ kann Haiders vereinfachenden Populismus bezwingen. Jeder Beitrag zu dieser Diskussionskultur ist wichtig und hilfreich. Dass er Wirkung zu zeitigen vermag, beweist nicht zuletzt Gérard Mortier: Seine Kehrtwende verdankt sich der Überzeugungskraft des besseren Arguments. Cornelia Niedermeier