Schriften zu Zeitschriften
: Neue Größe mit Golem und Geraune

Assimilation oder Deassimilation? Zur Frage der europäisch-jüdischen Identität

Ein gesamteuropäisches jüdisches Forum will die jetzt zum ersten Mal in Berlin erschienene Hochglanzzeitschrift Golem sein. Dieses Forum, postulieren seine Herausgeber, die Berliner Künstlergruppe Meshulash, sei durch die Umwälzungen in Europa im letzten Jahrzehnt möglich, ja notwendig geworden. In seiner Einführung spricht Meshulash-Mitglied Michael Frajmann davon, dass Europas Judenheit „nicht mehr als Nachlassverwalter eines großen Erbes“ agiere, sondern sich wieder zu einem „selbstbewussten, kritischen Partner“ im geostrategischen Spiel der weltweiten jüdischen Gemeinden gemausert habe.

Diana Pinto, Autorin aus Paris und wohl geistige Mentorin des Projekts, pflichtet ihm in zwei Beiträgen bei. Sie geht noch ein Stück weiter: Die amerikanische Judenheit sei durch gemischte Ehen, fehlendes Engagement, verstärkte Assimilation in eine WASP-Identität als Folge des Aufgehens aller Minderheiten in dem gesamtamerikanischen Schema Weiß/Farbig geschwächt. Israel hingegen werde durch das Palästinenserproblem, aufkommende faschistische Tendenzen und den verstärkten Einfluss der Orthodoxie immer bedeutungsloser. Hier, schreibt sie schadenfroh (schließlich arbeitet sie beim Europarat), bestehe die Chance für Europas Juden, wieder eine Großmachtstellung zu erlangen. Nicht nur sind die Gegner schwach – die Situation der Juden in Europa ist einmalig gut.

Seit dem Mauerfall, so die Autorin, lebten alle Juden freiwillig in Europa. Und: Europas Juden bestünden nicht mehr aus klar definierten Gruppen. So sind Deutschlands Juden zu einem überwiegenden Teil Russen; in Frankreich dominieren die Maghrebiner. Die alte Unterscheidung zwischen Stetl-Juden und mitteleuropäischen Juden deutscher Prägung sowie den stark assimilierten französischen und britischen Juden sei Vergangenheit. Daher können sich die Juden in Europa nur als europäische Juden begreifen.

Im Gegensatz zu Amerikas Juden könne, so Pinto weiter, die eben postulierte europäische Judenheit den Weg der Assimilation, den sie im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit verheerenden Folgen beschritt, nicht mehr weitergehen. Es bestehe – bedingt durch die räumliche Nähe zu Auschwitz – vielmehr ein Prozess der Deassimilation. Obwohl sie zum ersten Mal in der Geschichte alle die Möglichkeit hätten zu emigrieren oder sich vollkommen zu assimilieren, ohne wie im 19. Jahrhundert nur eingebildete Insider zu sein, blieben sie aus freier Entscheidung europäische Juden. Daher können sie wieder als dritter Pfeiler neben Israel und den USA mitspielen, gar eine führende Rolle spielen.

Und da die Juden gleichzeitig urban, tolerant, Gleichheit liebend und begabt seien, sei es endlich an der Zeit, dass die Juden den ihnen zukommenden Platz in Europa einnähmen, nämlich als Führer einer Bewegung hin zu einem toleranten Europa der multiplen Identitäten. Denn der Hauptdiskurs Europas (und der Welt), so Pinto, sei die Frage nach Identität. Bei dieser Entwicklung soll Golem von einer seiner vielen Ursprungsbedeutungen her „Entstehendes, im Prozess Befindliches“, offenbar Speerspitze sein.

Doch wenn wir aus geostrategischen Gründen in die jüdische Weltmachtliga aufsteigen und in Europa Ton angebend werden, bleibt immer noch die Frage: Woraus besteht denn die europäisch-jüdische Identität? Und wer ist überhaupt ein Jude? Laut seinem Golem-Beitrag soll für Ronnie Golz „jeder Jude sein, der oder die sich mit dem Judentum religiös bzw. kulturell beschäftigt hat und sich diesen Inhalten ,zugehörig‘ fühlt“. Für Iris Weiss ist es auch eine freie Entscheidung, ob man Jude ist oder nicht; ihre Freiheitsliebe ergießt sich auch in folgender Überlegung: „Was bedeutet mir mein hebräischer Name? Wenn ich keinen bekommen habe, welchen möchte ich mir vielleicht aussuchen? Von wem möchte ich mit welchem Namen angesprochen werden?“

Wohltuend unprätenziös und akkurat hebt sich der – für seine Verhältnisse sogar noch schwache – Beitrag des tunesisch-französischen Schriftstellers und Soziologen Albert Memmi von solcher Beliebigkeit ab: Die Frage „Wer ist Jude?“ sei einfach falsch gestellt, denn „sie impliziert den Typus des ,idealen‘ Juden, wogegen wir uns eher mit dem realen, heute lebenden Juden konfrontieren sollen ... Tatsächlich bedeutet Jude zu sein nicht nur ein Gefühl, eine Teilnahme, einen Willen, sondern beinhaltet auch eine Reihe von objektiven Lebensbedingungen, die, mehr oder weniger gewollt, die Mitglieder einer Gemeinschaft in die Pflicht nehmen.“ Jüdische Identität bestehe aus der objektiven Position in der Gesellschaft, entstehe aber auch durch die Gesamtheit subjektiver Erfahrungen. Jüdische Kultur als „die Summe der mehr oder weniger zusammenhängenden Antworten, ... die eine Gruppe von Menschen angesichts ihrer Lebensbedingungen findet“. Wie dies heute aussieht oder aussehen soll, wird in den anderen Beiträgen des umfangreichen, mit Prosatexten und bildender Kunst stark schwankender Qualität bespickten, dreisprachigen Manifests Namens Golem freilich nicht deutlich.

Offensichtlich bedurfte es mit Albert Memmi eines Autors, der eine real existierende Nahtstelle zwischen Kulturen kennt, der aus der – noch dazu arabischen – „Barbarei“ außerhalb der EU kommt, damit in der Welt der transeuropäischen Seminare, transeuropäischen Filmfestivals und transeuropäischen Magazine zu jüdischen Themen nicht nur schillernde Identitätsblasen in der Luft schweben und der Golem, diese seelenlose Zeitschriftengestalt, etwas Leben eingehaucht bekommt.

Tsafrir Cohen Golem. Europäisch-jüdisches Magazin. Für 12 DM in ausgewählten Buchhandlungen bzw. über Meshulash Berlin, Wielandstraße 37, 10629 Berlin