Nigeria zählt die Opfer religiöser Gewalt

Streit um das islamische Recht destabilisiert Nigeria. Viele Tote bei Polizeieinsatz gegen Christen und Muslime in der Stadt Kaduna

Berlin (taz) – Die Polizei in der nordnigerianischen Stadt Kaduna hat gestern nach Augenzeugenberichten das Feuer auf Demonstranten eröffnet und eine unbekannte Anzahl getötet. Das Blutbad sollte offenbar die seit Montag andauernden Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslimen beenden. Korrespondenten berichteten, der Einsatz richte sich gegen beide Seiten. Die Straßen des Arbeiterviertels Sabo seien mit Leichen übersät. Die Regierung des Bundesstaates Kaduna erklärte, sie habe die Armee um Hilfe gebeten.

Am Montag waren in Kaduna bereits zahlreiche Menschen ums Leben gekommen, als muslimische Jugendliche eine Großdemonstration von Christen gegen die befürchtete Einführung des islamischen Rechts, der Sharia, im Bundesstaat Kaduna angriffen. Die Polizei verhängte eine nächtliche Ausgangssperre und meldete gestern früh, sie habe 25 Leichen eingesammelt. Die Zahl scheint weit untertrieben. Ein fliehender Geschäftsmann, der im Auto mit hoher Geschwindigkeit eines der Kampfgebiete durchquerte, will einem Zeitungsbericht zufolge allein auf seiner Strecke 20 Tote gesehen haben.

Die Demonstration der Christen, die etwa 40 Prozent der Bevölkerung der 800.000 Einwohner von Kaduna und seinen Vorstädten ausmachen, folgte auf mehrtägige Pro-Scharia-Kundgebungen radikaler Muslime. Die christlichen Demonstranten durchbrachen Wachposten vor dem Sitz der Bundesstaatsregierung und gelangten in die Residenz des Gouverneurs Ahmed Mohammed Makarfi, wo sie Parolen wie „Scharia ist gesetzlos“ an die Wände malten.

Es folgten Auseinandersetzungen mit bewaffneten Muslimen, wobei Geschäfte und Autos angezündet wurden. Am Montagabend ging die zentrale katholische Kirche von Kaduna in Flammen auf. Der Zentralmarkt wurde geplündert, und zahlreiche Bewohner der Stadt flohen.

Mehrere nordnigerianische Bundesstaaten haben in den letzten Monaten die Scharia eingeführt, allerdings bisher nur solche, in denen die Einheimischen fast ausschließlich Muslime sind. Kaduna hingegen ist religiös gemischt und wurde daher zum Zentrum des Protests des christlichen Dachverbandes von Nigeria (CAN) gegen die Scharia. Die CAN-Leitung von Kaduna warnte im Januar, Kadunas Christen seien bereit, für ihren Glauben ihr Leben zu opfern.

Im Bundesstaat Niger rief der CAN Ende Januar die Christen zu einem dreitägigen Streik gegen die Scharia auf, die dennoch letzte Woche offiziell beschlossen wurde. Im Bundesstaat Yobe gingen letzte Woche 1.000 Prostituierte auf die Straße und demonstrierten gegen den Scharia-bedingten Verlust ihrer Arbeitsgrundlage.

Im Bundesstaat Zamfara, der im Oktober 1999 als Erster die Scharia einführte, hat die Rechtsänderung bizarre Folgen gehabt. Frauenfußball und öffentlicher Alkoholkonsum wurden verboten, ein 18-Jähriger wurde wegen Geschlechtsverkehrs mit einer 16-Jährigen zu 100 Peitschenhieben verurteilt. Durch Gerüchte über Steinigungen und Amputationen aufgeschreckt, entsandten prominente nigerianische Menschenrechtsgruppen letzte Woche eine Untersuchungskommission nach Zamfara. Gouverneur Sani Yerima erklärte der Kommission, es gehe lediglich darum, die Scharia „zu 100 Prozent zu praktizieren – mehr nicht“.

Die Ausbreitung des islamischen Rechts wird weniger von religiösen Führern betrieben als von konservativen Politikern Nordnigerias, die der 1999 entmachteten Militärelite des Landes nahestehen. Sie fordern damit die gewählte Regierung von Präsident Olusegun Obasanjo heraus. Dieser hat bereits die Armee in den Krieg gegen Aufständische in den Ölfeldern des Niger-Flussdeltas und die Polizei gegen radikale Milizen des Yoruba-Volkes in Nigerias größter Stadt Lagos geschickt.

Dominic Johnson