Herausforderungen unserer Zeit ■ Von Andreas Milk

Wer will, kann von mir aus gern mit einem Gummistrick ums Fußgelenk von einer Brücke springen oder an der Eiger-Nordwand rumhängen. Bescheidener Mensch, der ich bin, suche ich mir bescheidenere Abenteuer, die meinem Dasein ein wenig Würze geben. Alle sechs Wochen rede ich mit meinem Friseur über Fußball. Und zwar ohne dass ich das Geringste davon verstünde. Ach, was sage ich: ohne dass Fußball mich auch nur die Spur interessierte.

Am Anfang war es einfach nur Pech. Mein angestammter Haarkürzer – ein erfreulich schweigsamer Mensch – gab nämlich seinen Laden auf. Zum Abschied empfahl er mir, künftig zum Kollegen G. zu gehen, das sei „ein ganz Netter“. Hm. Warum nicht. Also auf zum Kollegen G. Zuerst war bei dem auch alles wie gewohnt. Ein abscheulicher Plastik-Umhang, eine knisternde Papier-Halskrause, ein beflissener Figaro. Und Stille.

Schnippschnapp, schnippschnapp, machte es leise. Im Hintergrund Easy-Listening-Radiomusik. O trügerische Idylle. Sie endete jäh, als G., das Gesicht zur Fratze verzogen, ausstieß: „Riesensauerei, was die Bayern sich da gestern geleistet haben, was?“ Zack. Ein solcher Satz, hervorgebracht von einem Menschen, der gerade mit scharfem Schneidegerät an meinem Kopf herum fuhrwerkte – meine imaginären Alarmglocken schrillten. Es galt, kaltblütig nachzudenken.

Schnippschnapp, schnippschnapp. Nur kein falsches Wort jetzt. Er hatte „die Bayern“ gesagt. Bayern? Mit Mühe memorierte ich eine Schlagzeile der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom Morgen, da war was mit Bayern. Bloß was? Oktoberfest? Nee ... Katholische-Kirche-Abtreibung-irgendwas? Auch nicht. Fußball! Das war es! Der FC Bayern hatte am Vorabend Borussia Dortmund vollkommen platt gemacht. Ein Aufruf zum Bürgerkrieg für jeden anständigen Ruhrgebietsbewohner, und wenn er zufällig Friseur ist, zieht er halt mit Rasiermessern und Lockenstäben in die Schlacht gen Süden. Beziehungsweise wankelt erst mal einen Kunden voll.

Schnippschnapp, schnippschnapp. Ich musste etwas antworten, den Erzürnten milde zu stimmen, auf dass mein Körper unversehrt bliebe. Also antwortete ich: „Dafür kriegen sie bei nächster Gelegenheit von uns wieder ordentlich einen drüber gebügelt!“ Die Miene des Haarkünstlers entspannte sich gleich; besänftigt stieß er gegen meine Schulter: „Genau so machen wir das!“

Schnippschnapp, schnippschnapp. Die Idylle vorm Spiegel war wieder hergestellt. Da plötzlich ein Aufbrausen des Scherenmannes: „Kerl, und was der Schiri sich da für eine Scheiße zusammengepfiffen hat!“ Schnippschnippschnippschnippschnipp!! Ich sank in eine gnädige Ohnmacht. In einem Haarspray-Nebel kam ich nach einigen Sekunden zu mir, zahlte und kroch auf allen vieren aus dem Friseursalon.

Das war vor zwei Jahren. Seitdem komme ich nicht mehr von diesem Nervenkitzel los, habe mir ein Repertoire rhetorischer Manöver zurecht gelegt, mit denen ich die knifflig-riskante Konversation mal so, mal so meistere. Wie lange ich diesen Extremsport noch durchhalte? Abwarten. Noch fühle ich mich der Herausforderung gewachsen. Und für die Zeit danach bekomme ich einen Werbevertrag bei einem Toupet-Hersteller.