Osttimors Zustand erschüttert UN-Generalsekretär

Im zerstörten Land unter UN-Verwaltung weint Kofi Annan gemeinsam mit seinen Gastgebern

Bangkok (taz) – Er habe „erst jetzt begriffen, wie enorm die Zerstörung“ gewesen sei, sagte der UNO-Generalsekretär. Kofi Annan, der gestern seinen zweitägigen Besuch in Osttimor beendete, war sichtlich erschüttert: Als er am Donnerstag gemeinsam mit seiner Frau Nane einen Kranz an der Kirche von Liquica niederlegte, wo proindonesische Milizen über dreißig Menschen niedergemetzelt hatten, brachen viele der anwesenden Osttimoresen vor seinen Augen laut weinend zusammen. Kinder, Frauen und Männer wanden sich im Schmerz, als die Erinnerung an den Terror vor und nach dem UNO-Referendum im August wieder wach wurde.

Auch Annan, der viel Elend in der Welt gesehen hat, standen Tränen in den Augen. Vor zehntausenden Zuhörern auf dem dicht gedrängten Platz vor dem alten Gouverneurspalast versprach er, die Vereinten Nationen würden dem verwüsteten Land bei Aufbau helfen. An seiner Seite standen der Vorsitzende des „Nationalen Widerstandsrates“, Xanana Gusmao, und der Leiter der UNO-Übergangsverwaltung Untaet, Sergio Viera de Mello.

Annan hatte Mitte der Woche in Jakarta Zwischenstation gemacht, wo er mit dem indonesischen Präsidenten Abdurrahman Wahid zusammentraf. Wahid hatte nur wenige Stunden vor Annans Ankunft seinen Sicherheitsminister General Wiranto vom Dienst suspendiert, gegen den die Generalstaatsanwaltschaft wegen der Verbrechen in Osttimor ermittelt. Falls Indonesien die Verantwortlichen nicht, wie versprochen, vor Gericht bringe, könne der UNO-Sicherheitsrat beschließen, ein internationales Kriegsverbrechertribunal einzusetzen, erklärte Annan. Obwohl viele Osttimoresen der UNO für die Unabhängigkeit dankbar sind, kehrt sich die Stimmung in der Bevölkerung inzwischen zusehends gegen deren Mitarbeiter. Fünf Monate nachdem die Indonesier vertrieben wurden, hat der Wiederaufbau immer noch nicht begonnen – obwohl eine Geberkonferenz im letzten Jahr über 500 Millionen Dollar zusagte. Die Bürokratie von UNO und Weltbank wird noch bis zum Sommer brauchen, bis die Programme anlaufen können.

Inzwischen sitzen in Dili und anderen Orten die Menschen vor den ausgebrannten Ruinen ihrer Häuser: Rund 90 Prozent sind arbeitslos: Sie haben nicht genug Geld, um sich ein Dach über den Kopf zu zimmern, zudem fehlt es an Baumaterial. Die Kriminalität wächst, die UNO hat erst 460 der geplanten 1.610 ausländischen Polizisten geschickt. Im einzigen Gefängnis werden Massenmörder und Vergewaltiger festgehalten, doch die meisten Übeltäter werden notgedrungen laufen gelassen.

Jutta Lietsch