Am Bewusstsein vorbei

In den Sechzigerjahren galten in fortschrittlichen Kreisen Filme nur dann als akzeptabel, wenn sie in ihrer Bildersprache sich aus dem Vokabular der Agitprop bedienten. Inzwischen haben sich die Ansprüche entkrampft. Fazit: Einen politischen Film gibt es nicht, es sei denn, er zeigt politische Wirkung. Eine Rückschau auf ein Zeitalter guter Vorsätze von Peter W. Jansen

Es genüge nicht, politische Filme zu machen – so ungefähr hat Jean-Luc Godard gesagt –, vielmehr komme es darauf an, Filme politisch zu machen. Gesagt, getan in den Achtundsechzigerjahren, mit den „Cinétracts“. Die waren kurz, polemisch und politisch, weil sie kommunistisch waren. Oder egalitär. Und weil sie keinen Autor mehr kannten, sondern nur noch Autoren, die sich Groupe Dziga Vertov nannten. Namenlos sollten sie sein – und wollten dann doch irgendwann genannt werden, Jean-Pierre Gorin, Anne-Marie Miéville. Aber da hießen die Filme schon „Ostwind“, oder „Maria und Joseph“ und setzten den Godard von „Made in USA“ und „La chinoise“ wieder fort.

Die „Cinétracts“ waren gefilmte Traktate, dogmatische Abhandlungen gewesen, wie die Filmarbeiten der ersten Generation der Studenten der Berliner Film- und Fernsehakademie. Oder wie – dreißig Jahre vor achtundsechzig – „Das Leben gehört uns“. Dieser Film, eine wilde Mischung aus dokumentarischen und erzählten Partikeln, war eine Produktion der Kommunistischen Partei Frankreichs, und Jean Renoir zeichnete nur als Leiter eines Kollektivs für die Regie. Erst Jahrzehnte später von den Cineasten wahrgenommen, sollte der Film für die Parlamentswahlen 1936 der Werbung für die Volksfront dienen, ein Propagandaspot sozusagen von 62 Minuten Länge. So wurde das Pamphlet nie im Kino, sondern nur auf Wahlveranstaltungen gezeigt, wo er mehrheitlich Leute zu überzeugen wusste, die schon überzeugt waren.

In den Kinos lief unterdessen ein anderer Film von Jean Renoir: „Das Verbrechen des Monsieur Lange“. Da ging es um eine mittelständische Druckerei, die nach der Flucht des Patrons vor seinen Gläubigern von den Arbeitern übernommen wird und als Kooperative reüssiert. Bis der alte Besitzer wieder auftaucht, den sanierten Betrieb zurückhaben will und von Monsieur Lange erschossen wird. Das ist das Verbrechen des Herrn Lange, gegen das der Film nichts einzuwenden hat.

Man muss keine Statistik bemühen, um zu wissen, dass der sozialistische Thriller mehr Wirkung erzeugte und Proselyten machte als das Kommunistische Manifest. So wenig man ein Weissager ist, wenn man behauptet, dass Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ weniger Kommunisten zu Stalinisten machte als Veit Harlans „Jud Süss“ aus braven Christen Antisemiten. Eisenstein, Pudowkin, Wertow – sie alle traten mit der erklärten Absicht vor ihr Publikum, Propaganda für den Kommunismus zu machen; ihre Filme waren bar jener Schmierseife, als die der Seelenkitsch funktioniert.

Harlan, Steinhoff und wie sie alle hießen, wattierten ihre heroischen, todessüchtigen Dramen mit Idylle aus. Doch sie alle machten mehr oder weniger dezidiert „politische“ Filme. So jedenfalls, wie man sie heute nicht mehr machen kann. Und wenn es noch einer versuchte, so erlitte er Schiffbruch, ästhetisch oder kommerziell oder ästhetisch und kommerziell, wie Bernhard Wicki mit dem „Spinnennetz“ Anfang der Neunzigerjahre oder Roland Suso Richter mit seinem viel spekulativer angelegten Film über den NS-Arzt Josef Mengele. Weder Reinhard Hauff mit „Stammheim“ noch Margarethe von Trotta mit der „Bleiernen Zeit“ haben so wirksam am Lack der (alten) Bundesrepublik Deutschland gekratzt wie Rainer Werner Fassbinder mit dem rotblauen Melodram „Lola“ oder Alexander Kluge mit dem schwarzweißen „Abschied von gestern“.

„Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner rückt es“, heißt es bei Kluge, und das Wort, das er meint, heißt Deutschland. Mit den „politischen“ Filmen geht es nicht anders. Je „politischer“ sie sich gerieren, desto weiter geht ihr Schuss am Ziel vorbei. Oder das Politische wird zum Unterhaltungswert wie bei Shakespeare, der uns so fehlt, um uns die Tragödie MacKohl auf die Bühne zu bringen. Oder das Politische degeneriert, wie in den amerikanischen Präsidentenfilmen. Und es kommt nicht von ungefähr, dass es die farcenhafte Übertreibung ist, die am ehesten die Sache trifft („Wag the Dog“).

Ist das Kino jemals etwas anderes als politisch gewesen? Es brauchte nicht den General Ludendorff, der die Gründung der Ufa betrieb, und auch nicht Wladimir Iljitsch Uljanow („Lenin“), der den Film zur ersten unter den Künsten erhob, um der Erkenntnis von der politischen Wirkmöglichkeit des Kinos Bahn zu brechen. Eine Massenveranstaltung wie das Kino kann gar nicht anders als politisch sein. Und sei es, dass auf den Empfängen und Partys der Fünfzigerjahre das Whiskyglas zwischen den flachen Handflächen gerollt wurde, wie es Paul Newman neben Liz Taylor in „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ vorführte. Oder dass in den Monaten nach „Bonnie und Clyde“ (mit Faye Dunaway) alle jungen Frauen auf einmal Baskenmützen trugen. Oder dass nach den filmischen Völlereien mit Twiggy allenthalben die Bulimie, sprich: Magersucht, um sich griff.

Das Elend greift viel tiefer, weil es eine Geburtskrankheit des Kinos ist. Zum ersten Mal, wahrscheinlich, trat sie auf mit dem Film, von dem alle, die Filme machen, das Filmemachen gelernt haben, und alle, die Filme sehen, das Filmesehen. Bis dahin nämlich war das Kino ein Klacks: Ein Boxer boxte mit einem Kängeruh, ein Zug lief in den Bahnhof ein, eine Rakete wurde vom Mond verschluckt. Da existierten sie noch getrennt, die abgefilmte und die ausgedachte Realität, und alles war genau das, was man auf der Leinwand sah.

Dann hatte jemand die verwegene Idee, zwei gleichzeitig ablaufende Handlungen nacheinander ablaufen zu lassen, ehe sie sich beim Eisenbahnüberfall vereinigten – und brachte damit dem Publikum bei, dass es fortan im Kino zwei Wirklichkeiten geben würde, nämlich jene, die man sah, und jene, die man sich dachte – die auf der Leinwand und die im Kopf. Danach konnte es nur noch schlimmer kommen, und bald danach kam David Wark Griffith. Seine „Geburt einer Nation“ kombinierte alles, was es bisher gab, das Schlachtengetümmel der italienischen Monumentalfilme mit den Familienidyllen aus Skandinavien, deutschen Nebel mit amerikanischem Pioniergeist, Mief mit Technik.

Vor allem aber perfektionierte er das simultane Erzählen durch Montage, wagte schier unsinnige Close-ups (weshalb man ihn einen Anarchisten hieß) auf Haustiere oder eine Baumwollblüte, riskante Schwenks mit damals noch von Hand nachgezogener Schärfe von Nah auf Total. Er riss die einzementierte Kamera aus ihrer Verankerung und ließ sie vor galoppierenden Heerscharen herrasen. Er erfand eine Sprache, die von sich erzählte. Aber er beließ es nicht dabei, weil er die Kunstfertigkeiten nur entwickelte, weil sie seinen Absichten dienten.

Die aber handelten von einer anderen Politik als die Politik der Sprache, von der Politik nämlich der beiden Amerikas, der Nordstaaten und der Südstaaten. Und dabei ging es dem durch den Bürgerkrieg total verarmten Plantagenbesitzersohn aus Kentucky um eine Rechtfertigung des Ku-Klux-Clan, zu dessen Anführern sein Vater gehört hatte; ging es um eine Anklage der „Carpetbeggars“ aus dem Norden, die den Süden auspowerten wie die Wessis die Ossis – und das mit Hilfe der befreiten, aber zu selbstständigem Handeln und Verwalten nicht ausgebildeten Schwarzen. Die ließ Griffith von schwarz geschminkten Weißen spielen – mit der Begründung, dass er „kein schwarzes Blut in dem Film haben wollte“.

So steht am Anfang der Filmgeschichte ein zwiespältiges Werk mit zweierlei Politik, die eines Inhalts und die einer Form, die sich dem Inhalt anpasst, statt ihn zu bestimmen. Rassistisch bis zur Fatalität ist die „Geburt einer Nation“ zugleich eine Befreiungstat der Fantasie. Sie an die Macht zu bringen kann die Arbeit des Kinos sein. Weil es genauer sehen lässt als bisher. Weil es die Träume befreien kann und Hoffnungen beflügeln. Weil in ihm der Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse eine Heimstatt hat, und weil in ihm die Unruhe der Utopie aufgehoben sein kann. Das wäre: Filme politisch machen – statt „nur“ politische Filme.

Im fortgeschrittenen Imperialismus des Kinos von heute sind die politischsten Filme die, die nicht politisch zu sein vorgeben und nur unterhalten wollen (was, wohlgemerkt, keine Sünde gegen den Geist der Filmsprache sein muss). Weil sie alle Sehnsucht nach Veränderung eliminieren. Weil sie der Bequemlichkeit straffreien Bildergenusses Vorschub leisten. Und weil sie keinen Widerstand in den Köpfen finden und deshalb Widerstand nicht lehren können.

Noch gibt es Ausnahmen, noch Hoffnung. „Okraina“ (1998) gehört dazu, der Film des Russen Petr Lutsik, und des anderen Russen Alexander Sokurows, „Moloch“ (1999). Beide Filme entzünden sich bis zur Weißglut an der schlechten Wirklichkeit, der von heute oder der früheren, die alles andere als nur noch geschichtlich ist. Die aufständischen sibirischen Bauern ziehen gegen die Macht, die ihnen ihr Land geraubt hat, bis sie auf ihrem absurden Feldzug Moskau brennen lassen.

Der Film lässt sie gewähren, aber er verheimlicht nicht, dass auch sie Reaktionäre sind mit faschistischer Gewalt. So doppeldeutig ist auch „Moloch“, eine Farce, die ihren Hitler bei einem Wochenende auf dem Obersalzberg, vom Krieg darf nicht die Rede sein, in der ganzen Monstrosität zwischen Hypochondrie und Aggressivität zeigt, lächerlich und gefährlich zugleich. Gelingen konnte dieses Wagnis nur, weil „Moloch“ jederzeit die Sprache offenbart, mit der der Film über seinen Gegenstand spricht.

Peter W. Jansen, 69, einst Leiter der Kulturabteilung beim Südwestfunk, ist auf der diesjährigen Berlinale Mitglied der internationalen Jury. Der Publizist hat seit 1972 45 Bände der Filmreihe im Hanser-Verlag herausgegeben und lebt in Gernsbach nahe Baden-Baden