Das Patt

Der SSW, Partei der dänischen Minderheit, erwartet einen Erfolg: Zünglein an der Waagebei der Kieler Landtagswahl zu werden.Den SSW erwartet ein Problem: Zünglein ander Waage bei der Kieler Landtagswahl zu sein ■ Aus Schafflund Uta Andresen

Unsere Dänen, hatte der Bürgermeister gesagt. „Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, wo die leben.“ Unsere Dänen. Was für eine Formulierung. Der Spagat mit Worten: distanziert und liebevoll. Wie man eben eine Spezies betitelt, die einem durchaus sympathisch, aber letztlich fremd ist.

Schafflund, 2.300 Einwohner, keine zwanzig Kilometer von der dänischen Grenze entfernt, auf halbem Wege zwischen Nord- und Ostsee. Auf der Dorfstraße stauen sich im Sommer die Wagen derer, die nach Sylt fahren. Hier also leben sie. Die Dänen. Die Anhänger des SSW, des Südschleswigschen Wählerverbandes.

Viele können es auf jeden Fall nicht sein, eine Straße ist es nur, der Buchauweg. Hinten die backsteinrote Schule, zehn Kinder pro Klasse, klein, schnuckelig. Drei Häuser weiter der Kindergarten mit dem rotweißen Danebrog, der dänischen Nationalflagge, im Vorgarten. Und nebenan in dem weißen Haus Karl Otto Meyer, der SSW-Politiker, der bei der letzten Kommunalwahl fast so viele Stimmen bekam wie Bürgermeister Volkert Petersen.

Karl Otto Meyer, der Mann, der im Dorf nur K. O. Meyer heißt. K. O. wegen des Karl Otto. Und K. O. wohl auch wegen der CDU-Regierung, die letztlich durch ihn, den damaligen Landtagsabgeordneten der dänischen Minderheitspartei, im Herbst 1987 k. o. ging. Nachdem sie sich zuvor reichlich selbst geschadet, indem sie andere malträtiert hatte. Ministerpräsident Uwe Barschel (CDU) hatte über seinen Wahlkampfgegner, Björn Engholm (SPD), erzählen lassen, dieser hinterziehe Steuern, habe Aids. Das wurde kurz vor der Wahl im September bekannt, im Parlament stand es danach 37 für CDU/FDP und 37 für SPD/SSW. 37 zu 37. Wie da regieren? Karl Otto Meyer blieb an der Seite der SPD, das hieß Neuwahlen, und nach fast vierzig Jahren christdemokratischer Regierungen wurde wieder ein Sozialdemokrat Ministerpräsident in Kiel. Knockout durch SSW.

Deuten die Wahlanalysen der vergangenen Wochen nicht darauf hin, dass es wieder so werden könnte? Deutet sich nicht wieder ein Patt an zwischen der affärengeschwächten CDU unter Volker Rühe und der nie wirklich geliebten SPD unter Heide Simonis? Sieht es nicht ganz danach aus, dass die havarierten Grünen den Einzug ins Kieler Parlament knapp verpassen, gestrandet wie die ölgetränkte Pallas vor der nordfriesischen Insel Amrum? Und wird es nicht dann der SSW sein, die Partei der dänischen Minderheit, die mit ihren zwei bis drei Abgeordneten über die künftige Regierung zwischen Nord- und Ostsee entscheiden wird? Weil eines sicher ist, wenn am 27. Februar in Schleswig-Holstein gewählt wird: Der SSW ist drin.

Vorteil durch Ausnahme. Weil für die dänischtreue Partei seit 1955 keine Sperrklausel gilt, seitdem die Bundesrepublik in die Nato wollte, und Dänemark dafür einen besonderen Schutz für seine Minderheit südlich der Grenze aushandelte. Bis heute ist der SSW die einzige Partei, die lediglich die Stimmen für ein Landtagsmandat zusammenbekommen muss, um drin zu sein.

Gemeinderat zu Schafflund. Tagesordnungspunkt: der Schülertransport. Haltung des SSW: Beteiligung nur gegen Pflastern des Platzes vor der dänischen Schule. Konflikte im Rat, quer durch alle Fraktionen. Ergebnis: Der SSW bekommt seinen gepflasterten Platz. Kosten: 120.000 Mark. Nicht wenig, sagt Bürgermeister Petersen, dafür, dass dort zweimal am Tag der Schulbus wendet. „Der SSW, das sind die einzigen, die mit einem Parteischild am Auto rumfahren und ihre Fahne vorm Haus hissen. Das würden die von der CDU oder SPD nie wagen“, sagt Volkert Petersen. „Der SSW ist eine Partei, die in erster Linie die Rechte ihrer Bevölkerungsgruppe wahrnimmt.“ Hier spricht der Stratege. Petersen könnte auch sagen: Der SSW ist reichlich stur, wenn es um die Pflege der eigenen Klientel geht. Frei nach der Rechnung „Zwanzig Prozent dänische Minderheit macht zwanzig Prozent des jeweiligen Etats“. Zwanzig Prozent für die Schule, zwanzig für den Kindergarten, zwanzig für den Kulturverein, zwanzig für die Jugendgruppen. Dazu kommen die jährlich 120 Millionen Mark vom dänischen Staat, die dieser für seine Minderheit südlich der Grenze insgesamt ausgibt.

Der Bürgerwindpark. Sechs Windräder à 1,5 Megawatt. 24 Millionen Mark Investitionen – und alle nur aus dem Dorf. Eine feine Sache. Ohne den SSW wäre das nie gegangen, sagt Bürgermeister Petersen. „Da hat uns Karl Otto Meyer die Türen in Kiel geöffnet.“ Der SSW – doch keine reine Klientelpartei? Doch eine Partei, die sich um die allgemeinen Belange des Dorfes kümmert? „Wenn wir gemeinsam was wollen, machen wir das schön zusammen“, sagt Bürgermeister Petersen. Wir und unsere Dänen.

Unsere Dänen. In den Fünfzigerjahren hieß das in Schafflund noch „Speckdänen“. Das war die Zeit, in der der Bauer, auf dessen einstiger Kälberkoppel heute der dänische Kindergarten steht, sein Land nicht an einen dieser Dänen verkaufen wollte. Die Zeit, in der die „Deutsche Jungenschaft“ im nahen Städtchen Schleswig „Gebt den Grenzkampf auf – wir bleiben deutsch“ auf dänische Schulen und das Pastorat schmierte.

Speckdänen, so nannten die deutsch gesinnten Bewohner des Grenzlandes diejenigen, die in der Volksabstimmung 1920 eine Wiedervereinigung mit Dänemark befürworteten; schließlich gehörte der Süden des einstigen Herzogtums Schleswig bis 1862 zur dänischen Krone. Diese Stimmen, so argwöhnten die Deutschnationalen, seien von Kopenhagen mit Lebensmittelpaketen gekauft. Speckdänen, so nannten sie wieder diejenigen, die sich während des Nationalsozialismus im dänischen Kulturverein engagierten. Und Speckdänen wieder die hunderttausend, die nach dem Zweiten Weltkrieg für den Südschleswigschen Wählerverband votierten und erneut darauf hofften, dass ihre Heimat dänisch würde.

Unsere Dänen. Das hätte der Bürgermeister von Schafflund vor zehn Jahren noch nicht gesagt. Garantiert. Der war von der CDU, und der Knockout durch den SSW sorgte für lang anhaltenden Phantomschmerz in den konservativen Dörfern und Kögen Schleswig-Holsteins. „Die Jüngeren sind da weniger ideologiebehaftet“, sagt Bürgermeister Petersen. Vielleicht liegt es auch daran, dass es inzwischen nicht nur dänischtreue Schleswiger sind, die sich zur Minderheit bekennen, sondern auch das Ärztepaar aus Stuttgart oder die Gleichstellungsbeauftragte aus Hessen. Dänisch ist, wer dänisch fühlt. Das schreibt die Bonn-Kopenhagener Erklärung von 1955 fest, in der sich die Bundesregierung verpflichtete, das Bekenntnis zur Minderheit nicht zu hinterfragen.

Wahlkampf in Schafflund, und der SSW trifft sich im Versammlungshaus des dänischen Kulturvereins, gleich hinter der Schule. Das „Lille Theater“ kündigt seine nächste Vorstellung an: Frankenstein. Margrethe und Henrik von Dänemark sehen von der Wand herab: distinguiert und erstaunlich frisch – die Fotografie dürfte aus den Siebzigerjahren stammen. Vierzig Menschen sitzen da und singen Velkommen lærkelil, „Willkommen Lerche“: „Schönes dänisches Frühlingslied“, sagt eine. Und Anke Spoorendonk, Spitzenkandidatin des SSW, sorgt erst einmal dafür, dass der deutschsprachige Gast beim Kollegen vom Flensborg Avis platziert wird – „er kann für Sie übersetzen“.

Anke Spoorendonk, 52, blond, mit Vorliebe für satte Farbkombinationen in Blau und Grün. Zweisprachig aufgewachsen, der Vater einst Ratsherr für die dänische Minderheit in Schleswig, Pädagogik- und Geschichtsstudium in Kopenhagen, seit vier Jahren Landtagsabgeordnete des SSW, praktisch allein, da der Kollege, ohnehin amtsmüde, nach einem Autounfall dem Parlament endgültig fernbleibt, das Mandat aber behält. Eine Frau, von der sogar der Fraktionsvorsitzende der Landtags-CDU, Martin Kayenburg, sagt: kompetent, unkompliziert, pragmatisch. Skandinavisch, sagt Bürgermeister Petersen.

Tagsüber basteln hier die Schulkinder, nun spricht Anke Spoorendonk über Wahlanalysen, die gut aussehen, 38.000 Stimmen sollte der SSW wieder zusammenbekommen – mindestens. Sie spricht über eine Minderheitsregierung, die der SSW tolerieren würde – ganz nach skandinavischem Vorbild. Sie spricht über eine Koalition, die der SSW nicht eingehen würde – das könne man mit zwei, drei Abgeordneten nicht leisten. Man könnte auch sagen: Anke Spoorendonk spricht über politische Klugheit. Da kann es ihr nicht recht sein, wenn es jedem so klar wie Bürgermeister Petersen zu sein scheint, dass der SSW nichts anderes als die dänische Variante von Rot-Grün ist, vielleicht etwas bürgernäher, vielleicht etwas bodenständiger, aber Rot-Grün. Schwächt es doch ihre Position bei Verhandlungen nach der Wahl: darüber, welche Wünsche die ein oder andere Regierung dem SSW zu erfüllen bereit ist. „Da sind wir ja gleich abgehakt, uninteressant“, sagt Anke Spoorendonk.

An jenem Sonntagabend vor zwei Wochen hat Anke Spoorendonk sich geärgert. N3 filmt, sie will über die Förderung der Windkraft reden, die nötig sei. Darüber, dass sich keine Gesellschaft stabil entwickeln könne, wenn sie ihre Minderheiten nicht toleriere. Darüber, dass es beschämend sei, wenn es kein kommunales Wahlrecht für die Ausländer im Land gebe. Und da kommt doch diese Frage: Wie denn ein Däne deutsche Politik bestimmen will? Däne, deutsche Politik. Diese leidige Diskussion, ob der SSW ein vollgültiges Mandat besitze als Partei einer Minderheit. Anke Spoorendonk ärgert sich also und antwortet: „Menschen, die fordern, der SSW solle sich neutral verhalten, vergessen, dass es in der Politik keine Neutralität gibt.“ Neutralität bedeute dann nämlich nur, dass man nicht mit am Tisch sitze, sondern abseits. Auch Nichtverhalten ist Verhalten. Ärgert sich und sagt: „Wir zahlen Steuern, haben hier unseren Lebensmittelpunkt, fordern nichts für uns, was wir nicht auch für andere fordern.“

K. O. Meyer. Knockout. Dieser alte Mann auf seinem Sofa? Alle Achtung. Mit siebzehn Jahren im dänischen Widerstand gegen die Nazis, mit 22 Lehrer in Schafflund, mit 31 im Gemeinderat, mit 32 Vorsitzender des SSW, mit 35 Chefredakteur der dänischen Minderheitszeitung Flensborg Avis, mit 43 Landtagsabgeordneter, mit 72 noch einmal Direktkandidat im Wahlkreis Südtondern. Doch eine Empfindung wie Triumph scheint Karl Otto Meyer fern zu sein. Wie auch? Wenn der größte Erfolg zum größten Rückschlag wurde? Die Barschel-Affäre. Was ist da schon Triumph?

„Der Unbestechliche“ pinselte die SSW-Jugend im Herbst 1987 auf Plakate und hängte sie im ganzen Land an Laternenpfähle und Litfaßsäulen. Karl Otto Meyer in James-Bond-Pose vor dem Kieler Parlament, statt der Walther PPK eine Osterglocke in der Hand, das Symbol der Partei, darüber nur der meerblaue norddeutsche Himmel. Die überregionalen Zeitungen interessierten sich plötzlich für die kuriose Minipartei, deren einziger Abgeordneter im Kieler Parlament zum Hüter der Demokratie wurde. So darf es wieder sein. Da hätte Karl Otto Meyer gar nichts dagegen. Der SSW: die Partei der Unbestechlichen, bedeutend für die Geschicke des Landes.

Sechs Wochen lang brauchte Karl Otto Meyer in jenem Herbst Polizeischutz, mit der Post kamen morgens Morddrohungen in das kleine weiße Haus im Schafflunder Buchauweg. Und im Dorf hieß es wieder, er solle sich nicht einmischen. Er, der Däne. In die deutsche Politik. So darf es nicht wieder sein. Der SSW: die Partei der Dänen, kein Anrecht auf die Geschicke des Landes.

Vor wenigen Wochen, da sagte Volker Rühe in einem Interview, er erwarte vom SSW, dass er sich im Falle eines Patts neutral verhalte. Da war es wieder: Das, was Anke Spoorendonk die leidige Diskussion um das nicht vollgültige Mandat nennt. Das, was Karl Otto Meyer Rückschlag nennt. Das, was Bürgermeister Petersen den Bumerang nennt, der den SSW ereilen könnte als Zünglein an der Waage. Das Dilemma, dass Bedeutung wohl nur unter Anfeindungen zu haben ist. Gewissermaßen das Patt für den SSW.